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Dieser Text erscheint zeitgleich in der Zeitschrift "Das Blättchen" Heft 20/2023; S. 39-42 vom 25.09.2023: https://das-blaettchen.de/

Der Ort des hier zu schildernden Ereignisses ist das Pasinger Ebenböckhaus. Die Villa, ehemals bewohnt vom königlichen Hof-Wachslichter-Fabrikanten Mathias Ebenböck und seiner Familie, beherbergt heutzutage nicht nur die Geschäftsstelle vom „Archiv der Münchener Arbeiterbewegung e.V.“ und das „Pasinger Archiv e.V.“. Seit 2011 bietet sie im Rahmen des Münchener Artist-in Residence-Programms zudem Künstler*innen aus aller Welt die Möglichkeit, für drei Monate in Kooperation mit Einrichtungen aus dem Kunst- und Kulturleben der Bayrischen Landeshauptstadt in Ruhe mit einem Stipendium an ihren jeweiligen Projekten zu arbeiten. So auch der Künstlerin Yoshiko Shimada. Ihr weit über Japan hinaus bekanntes Schaffen widmet sich Themen wie Gewalt, Krieg, Japans Kolonialgeschichte (einschließlich der Rolle von Frauen) und der Erinnerung daran. Ein Höhepunkt ihres im Juli begonnenen Aufenthaltes fand am Abend des 1. September statt – eine gemeinsam mit ihrem Partnerverein „Art5 e.V. (Culture Politics · Asia & Europe, https://www.art5.eu/)“ veranstaltete Performance, die den Titel „Long Live the Short-lived“ trägt und deren Inhalt Yoshiko Shimada so vorstellt:

  „Commemorating the deaths of Japanese, Korean, Chinese, and German activists around 1923, along with thousands of ordinary Koreans massacred by Japanese in the aftermath of the Kanto Earthquake.” (Text zur Performance)

Das von ihr erwähnte Große Kantō-Erdbeben ereignete sich auf den Tag dieser Veranstaltung genau vor einhundert Jahren, als zur Mittagszeit am 1. September 1923 das Beben zudem Feuerstürme auslöste. Die Katastrophe forderte weit über 100.000 Tote und Vermisste. Tokyo sowie Gebiete angrenzender Präfekturen (Kantō-Region) wurden großflächig verheert. Am 2. September verhängte die damalige Regierung das Kriegsrecht über die Region, die damit zum Kriegsgebiet erklärt wurde. Die politischen Geschehnisse in den darauffolgenden Tagen, einschließlich ihrer Benennung, sind bis heute umstritten. Shimada bezeichnet sie klar und deutlich als Massaker an Tausenden Koreaner*innen, begangen von als „Selbstschutztruppen“ agierenden Japaner*innen, und vom Staat angeordnete Verfolgung und Ermordung von zahlreichen japanischen, koreanischen und chinesischen Kommunist*innen, Sozialist*innen und Anarchist*innen.

Das Schicksal letzterer präsentiert die Künstlerin aus ihrer persönlichen Familiengeschichte heraus in einer etwa 15-minütigen Performance, in der sie es zugleich auf beeindruckende Weise mit dem Geschick von Münchener Zeitgenoss*innen verbindet, dem sie im eingangs erwähnten Arbeiterbewegungsarchiv auf die Spur gekommen ist.

In weißem Gewand, barfüßig tritt Yoshiko Shimada aus dem allmählich ins abendliche Dunkel versinkenden Ebenböck-Garten ein in das hell erleuchtete Foyer der Villa. Sie wendet sich den zwölf Porträts zu, die sie mit schwarzer Acrylfarbe auf weiße Baumwolltücher gemalt und für ihre Darbietung auf eine Leine geklammert hat, die sich von den beiden offenen Türflügeln halbkreisförmig in den Saal hinein spannt (Foto 1). Auf dem Parkett leuchten links und rechts neben ihr die je gleiche Anzahl Teelichter. Dann entnimmt sie der Leine das erste Tuch – es zeigt das Porträt der Feministin und Anarchistin Itō Noe (1895 bis 16. September 1923). Sie ergreift eines der Lichter, nähert sich damit zwei, drei kleine Schritte dem Publikum im Foyer, stellt es vor sich auf den Boden und nennt den Namen der Abgebildeten. Nun wird das Tuch vom oberen Rand her mit beiden Händen etwas gerafft und einmal kräftig in Richtung Kerzenlicht ausgeschlagen. Ein knallender Ton, das erste Flämmchen erlischt (Foto 2). Anschließend klammert sie das Portrait an ihr weißes Kleid. Diese Prozedur wiederholt die Künstlerin weitere elf Mal, bis alle zwölf Kerzen erloschen sind und sie rundum mit den Portraits der zwölf Toten bedeckt ist. Auf Itō folgen:

  • ihr Ehemann, der Anarchist Ōsugi Sakae (1885 bis 16. September 1923),
  • der chinesische Student und Aktivist Wang Xitian (1896 bis 12. September 1923),
  • der Kommunist Kawai Yoshitora (1902 bis 4. September 1923),
  • der Sozialist Hirasawa Keishichi (1889 bis 3. September 1923),
  • der Arbeiter und Aktivist Satō Kinji (1902 bis 4. September 1923),
  • der Anarchist Gustav Landauer (1870 bis 2. Mai 1919),
  • der bei der Niederschlagung der Münchener Räterepublik einer Verwechslung zum Opfer gefallene Arbeiter Johann Lehner (1901 bis 3. Mai 1919),
  • die Sozialdemokratin Antonie („Toni“) Pfülf (1877 bis 8. Juni 1933),
  • das Dienstmädchen Maria Sandmayr (1901 bis 6. Oktober 1920), Fememord-Opfer,
  • der koreanische Anarchist Pak Yeol (1902 bis 1974), dessen Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt wurde und der nach Kriegs- und Kolonialzeitende in den Norden Koreas zurückkehrte,
  • die Anarchistin Kaneko Fumiko (1903 bis 23. Juli 1926), die wie ihr Partner Pak zunächst zum Tode verurteilt, dann – im Namen des Tennō (japanischer Kaiser) – zu lebenslanger Haft „begnadigt“ wurde, was sie (durch Selbsttötung?) zurückwies.

Mit dem Portrait letzterer, von Kaneko Fumiko, hat Shimada ihr eigenes Antlitz bedeckt. Dann ergreift sie ein schwarzes Fahnenstofftuch: „And thousands of nameless victims“. Sie hebt es über ihren Kopf und singt abschließend auf Japanisch die erste Strophe des nach dem Großen Kantō-Erdbeben zur Hymne der Anarchisten gewordenen Liedes „Schwarze Fahne“ (Foto 3). Seine Melodie ist zur Überraschung der Anwesenden allen Ohren vertraut: es ist – wie auch die der Hymne der britischen Labour Party „The Red Flag“ – die von „O Tannenbaum“ (Link zu https://www.untergrund-blättle.ch/kultur/musik/rote-fahne-o-tannebaum-arbeiterbewegung-5817.html).

Im darauf folgenden Gespräch erzählt sie von den Erinnerungen ihres Großvaters. Im gleichen Alter wie die jüngsten der oben genannten Opfer, und ebenfalls armen ländlichen Verhältnissen stammend, denen er in Tokyo entkommen wollte, landete er zunächst in der Kaiserlichen Armee und dann im Polizeidienst. Am Katastrophentag stand er mithin auf der „anderen Seite“, ganz konkret: in einer Gendarmerie in Fukagawa, das wie das nahe Downtown-Tokyo von den Feuerbrünsten besonders betroffen war. Hier befahlen Vorgesetzte den Polizeiangehörigen wie ihm, im Namen der „Öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ unter Kriegsrechtbedingungen politische Gegner, die wegen potentieller Unruhestiftung bereits verhaftet worden waren, zu beseitigen. In Stadtteilen wie Fukagawa hatten ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert Tokyos Entwicklung zu einer Industriestadt ihren Lauf genommen, hier lebte und arbeitete vor allem das entstehende Proletariat, das sich spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch zu organisieren begonnen hatte. In unmittelbarer Nähe zu Fukagawa befindet sich der Stadtteil Kameido, wo während dem später als Kameido Incident bekannt gewordenen Staatsterror ebenfalls zahlreiche Festnahmen erfolgten. Zehn Männer wurden exekutiert, darunter auch die von Shimada portraitierten Kawai Yoshitora, Hirasawa Keishichi und Satō Kinji (siehe Gordon, Andrew: Labor and imperial democracy in prewar Japan. Berkeley: University of California Press 1991, 176-181 und 345-348). Der Sozialhistoriker Andrew Gordon schreibt, die zehn Opfer seien erschossen und geköpft worden, räumt aber ein, dass Details über die Geschehnisse zwischen dem 3. und 5. September 1923 sich im Dunkel verlieren würden (ebenda, 179). Das vom Großvater in Fukagawa Erlebte, von dem dieser später – der Künstlerin zufolge eine große Ausnahme – im Kreise der Familie, also auch ihr erzählte, die es nun erinnert, spricht eine andere Sprache:

  In the policestation „he found rows of people tied up. The commander came and explained that they were jailed hard criminals. As the jail collapsed and it was too dangerous to let them go, they were to be ‘exterminated’. Though policemen had pistols, they were not allowed to use them. Instead, they were ordered to club them to death. There was no way of disobeying his order. My grandfather was forced to club the heads of those ‘criminals’ and kill. He later thought they might have been socialists and anarchists, though he had no way of knowing exactly who they were. Soon after the earthquake, grandfather quit the police force. He moved to his hometown, bought a small farmhouse, and became a farmer. After the war, he often told his experiences to his children.  

The sound of skulls crushed with a wooden club was similar to the sound of shaking out a wet washcloth after taking a bath. In my household, even we did not live with grandfather, shaking out a wet cloth and making that noise was a taboo.” (Begleitblatt)

Dass die Gefangenen nicht erschossen, sondern erschlagen wurden, erklärt Shimada Yoshiko damit, dass sie auf diese Weise leichter zu „entsorgen“, die Morde aufgrund nicht verschossener Kugeln kaum nachzuweisen waren. Nicht um die ohnehin nur schwer zu ermittelnden wirklichen Geschehnisse aber geht es mir hier. Angeregt von dem Kunsterlebnis im heutigen Pasing, gingen mir die folgenden Gedanken durch den Kopf.

Erstens haben mich die von der Künstlerin eingesetzten Ausdrucksmittel fasziniert, mit denen sie konkret Erlebtes und Erinnertes in überindividuelle Geltung beanspruchende Erfahrungen und Wissen zu übertragen versteht, die hier und jetzt beim Zuschauen emotional berühren und zugleich sehr unterschiedliche Zeiten und Räume bzw. Orte miteinander in Beziehung setzen. Das kann wohl – im Unterschied zur diskursiven Wissenschaft – nur gute, Synästhesie bewirkende Kunst, weshalb beide eng kooperieren sollten, wenn es um Erinnern geht. Die Teelichter, die sowohl Assoziationen mit dem Ursprung des Ebenböckhauses als Ort des Herstellens von Wachs als auch mit dem Auslöschen von Lebenslichtern hervorrufen – damals in München und in Tokyo. Gelöschtes Wachslicht 2023 durch das Ausschlagen eines Tuches, dessen Knallen meine Vorstellungskraft nun wohl für immer – und bei jedem „shaking out a wet cloth“ – in Richtung his/story-her/story-history im September 1923 und darüber hinaus lenkt: „Long Live the Short-lived“.

Zweitens sind, auch heutzutage durchaus nicht selbstverständlich, die von Yoshiko Shimada portraitierten und gemeinsam, in einer Reihe präsentierten Akteure – und Opfer – in einem transnationalen Zusammenhang zu sehen. Dazu äußert sich die Künstlerin so:

In der Residenz mit dem Arbeiterbewegungsarchiv „I could find various interesting materials including Munich Revolution of 1918-19, the labour movement and organizations around 1923, and the ‘Fememord’ around that time.  The right-wingers, fearing ‘proletarianization’ of the people, used extreme violence to quash the left movement. It was quite similar to the situation in Japan before the Great Kanto Earthquake. With the rise of the labour movement (esp. anarcho-syndicalism) and democracy movement in the 1920s, the ‘proletarisation of the people’ must have been feared by the Japanese authority as well.               

Osugi was in France in 1922, awaiting the International Conference of Anarchism in Berlin, but he was arrested and deported before the conference opened. While in France, he was in contact with Chinese activists, and he had also connections with Korean anarchists. East Asian solidarity was forming under strong influence from Russia and Germany. I hope sharing such a global political and historical background and examining the state violence will bring out deeper understanding of the past.” (Begleitblatt)

Drittens gehört mein Respekt der ebenfalls durchaus nicht selbstverständlichen klaren Positionierung der Künstlerin Shimada im Streit um die Deutung der Ereignisse im September 1923. Sie sieht die politischen Morde in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem Massaker an Tausenden Koreaner*innen. Zum einen weist sie jegliches geschichtsrevisionistisches Leugnen der Tatsache zurück, dass es ein Massaker war – und nicht „nur eine Panik“, die durch Gerüchte wie Koreaner*innen würden Brunnen vergiften, noch weiter angeheizt worden sei. Zum anderen könne das Massaker nicht nur aus ethnischen Gründen motiviert verstanden und damit von den politischen Morden separiert werden. Beide seien letztlich Resultat der imperial-kolonialistischen Politik des Tennō-Systems gewesen. Durch das gezielte Streuen der erwähnten antikoreanischen Gerüchte konnte die sich durch die Katastrophe verschärfende soziale Unzufriedenheit weiterhin nationalistisch kanalisiert werden, flankiert von der Angst, sich mit Kritiker*innen und Gegnern diese Tennō-Systems zu verbünden, die von Beginn an drastischen staatlichen Repressionen ausgesetzt waren. Sie und die Morde an ihnen öffentlich zu thematisieren und zu erinnern war gefährlich, was zu ihrem weitgehenden Verdrängen und Vergessen führte.

Bis heute. “I have been expressing my condolences to all victims of the great earthquake,” reagierte die seit 2016 regierende Gouverneurin von Tokyo, Yuriko Koike, auf die Kritik ihrer Ankündigung, sie werde auch in ihrer diesjährigen Gedenkbotschaft nicht gesondert auf das Massaker eingehen – was sie in ihrem Antrittsjahr noch getan hatte (https://www.asahi.com/ajw/articles/14991206 ). Mit diesem abstrakt-humanistischen „all victims“ wird vor allem die auf das Erdbeben folgende menschengemachte Katastrophe des Massakers „naturkatastrophisch“ verschwiegen. Doch nicht nur durch Koike. Auch die daran Kritik übenden Mainstreammedien verlieren kein Wort über die staatlicherseits ermordeten politischen Aktivist*innen. Allerdings darf man gespannt sein auf den von Tatsuya Mori – bislang als Dokumentarfilmer bekannt – gedrehten Spielfilm Fukudamura Jiken („Die Geschehnisse im Dorf Fukuda“), dessen Handlung beide Tragödien eng miteinander in Beziehung setzt. (https://www.fukudamura1923.jp/) Seine Uraufführung in Tokyo fiel mit dem Tag von Yoshiko Shimadas Performance in München zusammen.

Wie auf Foto 3 zu sehen ist, erinnert sie mit einem weiteren, ebenfalls im Foyer der Villa zu sehenden Werk in ihrer Performance an diese Interdependenz. In Anlehnung an Peter Paul Rubens Bild „Das Massaker der Unschuldigen“ (1636-38), ausgestellt in der Alten Pinakothek in München, ist ihr eigenes, gleichnamiges Gemälde entstanden (180 x 100 cm, Foto 4), das sie folgendermaßen kontextualisiert:

  „The title reminded me of the massacre of thousands of Koreans after the earthquake. Now in Japan, depicting historical events that are considered ‘anti-Japan’ is carefully monitored by the right wingers and the government, and also the art world ignore such works as ‘political propaganda, not good art’. Moreover, the audience do not want to   see anything ‘horrible and depressing’. However, the European art museum are full of  awful historical events – massacres, rapes, crucifixes, etc. and the Japanese tourist love   them. So I decided to use the Rubens painting as a base to depict the massacre, adding some historical images from photographs (two men in white and dead bodies of father   and child on the left front), and a white-shorts child with a bamboo stick (is he ‘innocent’?) and a black standing figure on the far right (my grandfather). The women    in the center, clad in black kimono and hoisting a black flag is Kaneko Fumiko, who stood against the imperialism. The background was altered too based on some photo images of Tokyo after the earthquake. Also the bridge and dead bodies in the river in the central distant view.”

Sich zum Titel des Bildes positionierend stellt Yoshiko Shimada die Frage, ob das Kind wirklich unschuldig ist. Das weist sie erneut als profunde Kennerin jener Diskurse aus, die ein simples Opfer-Täter-Denken hinter sich gelassen haben. Ein weiteres Argument für mich, die Wissenschaftlerin, auch künftig eng mit ihr, der Künstlerin, zu kooperieren.