Nachricht vom

Im Rahmen des Lortzing-Specials an der Oper Leipzig, dem Studierendenprojekt am 10./11. Juni 2023, haben die beteiligten Studierenden Interviews mit drei Lortzing-Expert:Innen gehalten. Diese erscheinen hier in folgender Reihenfolge:

1. Q&A mit Prof. Dr. Keym über die Bedeutung von Albert Lortzings Leben in Leipzig

2. Lortzing als realer Augenblick auf der Bühne: Interview mit Professor Fuhrmann über den Komponisten Lortzing

3. Interview mit Frau Dr. Capelle über Albert Lortzing und seine Offenheit gegenüber anderen

 

1. Q&A mit Prof. Dr. Keym über die Bedeutung von Albert Lortzings Leben in Leipzig

Im Juni findet das "Lortzing Wochenende" statt, bei dem in der Oper Leipzig und in der musikalischen Komödie die Opern "Undine" und "Der Wildschütz" des Komponisten Albert Lortzing aufgeführt werden. Um das Wochenende zu unterstützen, hat der Projektkurs zu Albert Lortzing unter der Leitung von Frau Dr. Heise ein Interview mit dem Direktor des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Leipzig , Professor Dr. Keym , geführt. Dabei ging es um Albert Lortzing, seine Zeitgenossen und seinen Einfluss in Leipzig.

Sie sind Professor für Musikwissenschaft mit Schwerpunkt für Musikgeschichte vom 19. bis 21. Jahrhundert. Gibt es etwas, das die Leser:innen noch über Sie wissen müssen?

Ja, ich habe mich relativ viel mit der Leipziger Musikgeschichte beschäftigt, allerdings mehr mit der Instrumentalmusik und mit Wagner, soweit man den zur Leipziger Musikgeschichte zuordnen will, das ist ja ein bisschen umstritten. Insofern kenne ich die Zeit sehr gut und auch die institutionellen Hintergründe, z.B. die Leipziger Oper. Aber Lortzing ist nicht mein Schwerpunkt.

Wissen Sie noch, wie und wann Sie Lortzing kennengelernt haben?

Das kann ich ehrlich gesagt nicht ganz genau sagen. Ich habe mich bereits als Jugendlicher viel mit Opern beschäftigt, aber ich habe in dieser Zeit keine Oper von Albert Lortzing zu sehen bekommen. Irgendwann habe ich wahrscheinlich Ausschnitte von Zar und Zimmermann mal gehört. Ich glaube sogar, es wurde mal eine Szene als Pantomime an unserer Schule aufgeführt.

Gab es etwas, dass Sie von Lortzing überrascht hat?

Überrascht eigentlich nicht. Lortzing ist einer der eher wenigen bekannteren Komponisten für heitere und komische Opern. Auf der einen Seite gibt es eine Hierarchie, die grundsätzlich davon ausgeht, dass ernsthafte, pathetische, seriöse Opern – z.B. Wagner oder Händel – einen höheren Stellenwert oder mehr Prestige haben.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch von Seiten der Musiker, der Komponisten oder auch der Dichter, die Rede,  dass es schwieriger sei, das Komische auf hohem Niveau zu machen, und es gebe viel weniger gute Komödien als Tragödien. Und Lortzing ist einer der wenigen deutschsprachigen Opernkomponisten mit heiteren Opern, der sich zumindest teilweise im Repertoire gehalten hat.

Sie haben 2022 eine Tagung zu Mendelssohn und Wagner als Leitfiguren der Leipziger Musikgeschichte durchgeführt. Beide sind Zeitgenossen von Lortzing. Was unterscheidet Lortzing von seinen Zeitgenossen? Wo kann man die größten Unterschiede merken?

Lortzing ist zuerst einmal ein Theatermensch, ein Schauspieler. Ein Schauspieler, der natürlich auch singt. Das war in der damaligen Zeit noch sehr viel enger miteinander verbunden. Von Schauspielern wurde generell erwartet, dass sie singen können und auch in einem größeren Ausmaß, als es heute üblicher Weise der Fall ist.

Er kommt vom Theater und das ist eine völlig andere Situation als bei Mendelssohn, der eine sehr solide kompositorische Ausbildung und auch eher mit Schwerpunkt Instrumentalmusik und vokale Kirchenmusik in Berlin bei Karl Friedrich Zelter genossen hat. Da ist der Abstand ziemlich groß.

Der Abstand zu Wagner ist nicht so groß, weil Wagner auch sehr „theateraffin“ war und seine älteren Schwestern Schauspielerinnen waren. Da ist dieses Schauspielermilieu, das, sagen wir mal, auch ein sozial etwas prekäres Milieu ist. Das ist schon näher dran, nur dass eben die Schwerpunkte von Wagner von vornherein immer aufs „Gigantomane“ ausgerichtet waren. Es gibt eine komische Oper, Das Liebesverbot, aber selbst die ist im Verhältnis zu Lortzing schwerfälliger und auch komplizierter und ist daher auch ein anderes Genre. Es gibt allerdings auch Überschneidungen, denn Lortzing hat eine Oper über Hans Sachs komponiert, die hier in Leipzig uraufgeführt wurde, und die war natürlich schon, zumindest thematisch, eines von diversen Vorbildern für Die Meistersinger von Nürnberg, die einzige spätere tendenziell komische Oper von Wagner, die aber auch wieder fast fünf Stunden dauert, also so lang wie zwei Lortzing Opern zusammen.

Während Lortzings Zeitgenossen, wie Wagner oder Mendelssohn durchaus bekannt sind, ist Lortzing weniger bekannt. Wie kommt es, dass Lortzing nicht so berühmt wurde wie andere Komponisten seiner Zeit?

Naja. Lortzing ist im 19. und auch noch im frühen 20. Jahrhundert sehr viel gespielt worden, das ist dann zurückgegangen. Jetzt wird er wieder ein bisschen mehr gespielt, aber nicht so viel wie zu seinen Zeiten.

Ich denke, das hängt  mit seinem Theaterkonzept zusammen. Vor allem seine Oper Undine – die jetzt in Leipzig zum ersten Mal seit langem wieder gespielt wurde und auch einiges Aufsehen erregt hat – ist eine Oper, die ernsthafte und heitere Dinge mischt. Und das ist ein Punkt, der schon immer sehr umstritten war in der Operngeschichte. Es hat immer Phasen gegeben, wo man das gemischt hatte, und andere, wo man das getrennt hat. Denn einerseits will das Publikum gern beides haben, es will gerührt werden, es will aber auch lachen. Und auf der anderen Seite ist es – wenn man von einem logischen, in sich geschlossenen Handlungskonzept ausgeht –  die Frage, ob man das gut in einem Werk zusammenbringen kann. Aristoteles hat eine Poetik geschrieben, bei der es einen Band über die Tragödie gibt, und dann gab es noch einen über die Komödie, der verloren gegangen ist, da wurde das getrennt. Und es hat immer wieder wechselweise solche Phasen gegeben, in denen das in einem Werk zusammengebracht wurde und wo es getrennt wurde. Und bei Lortzing ist es eben so, dass es gemischt ist. In der Undine sind vor allem am Anfang eine Menge lustige Szenen und Trinklieder und am Ende wird’s dann aber ziemlich ernsthaft und auch tragisch. Und ich glaube, dass sich das mit dem vorherrschenden Opernmodell im 20. Jahrhundert nicht deckt. Unser Werkrepertoire, das mehrheitlich hier bis heute aufgeführt wird, ist sehr stark vom späten 19. Jahrhunderts geprägt. Und da ist es ganz klar immer „entweder oder“. Und dann erscheinen solche Opern wie „Undine“ seltsam. Hier wurde auch in der Presse kritisiert, man hätte die gesprochenen Texte, diese lustigen Texte, viel mehr kürzen müssen. Und es sei unangebracht oder würde nicht funktionieren, wenn man das heute ungekürzt aufführt, weil es eben nicht dieser heutigen Ästhetik entspricht, aber damals war das normal und es war auch bei anderen Komponisten üblich wie Meyerbeer. Das hat man nur heute vergessen, deswegen kommen die Stücke nicht mehr so gut an.

Also ist es das Genre, das dazu führte, dass Lortzing nicht mehr so bekannt ist?

Ja, ich glaube, das ist speziell bei Undine ein Problem. Ansonsten ist es bei den anderen Stücken vielleicht auch so, dass man sie unterschätzt, dass man sagt, dass es volkstümlich, lustig, aber es nicht so richtig ernsthaft sei. Solche Stücke, wie zumindest Zar und Zimmermann, werden schon relativ viel gespielt, aber eben manchmal nicht richtig ernstgenommen.

Lortzing lebte und wirkte im 19.Jahrhundert, thematisiert in seinen Opern gesellschaftliche Strukturen der Zeit, wie Standesunterschiede, Identität oder Eifersucht. Sollte man Lortzings Werke heute noch spielen? Sind die Werke aktuell?

Sie sind auf jeden Fall aktuell. Zum einen denke ich, dass gerade die Mischung von Ernstem und Heiterem in gewisser Weise näher an der Lebensrealität ist als die Bühnenwerke, wo das puristisch getrennt wird. Und ansonsten hängt das natürlich von den einzelnen Themen ab.

Zu Lortzings Oper Undine mit dem Mythos der Wassernixe kann man sagen, dass das ein romantischer Stoff ist, der im ersten Augenblick nicht gegenwartsnah wirkt. Andererseits ist das die Begegnung von zwei sehr unterschiedlichen Leuten und wenn man das etwas abstrahiert, dann ist das Thema sehr aktuell. Die Frage, inwieweit eine Partnerschaft funktionieren kann zwischen zwei Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Milieus kommen, ganz unterschiedlich geprägt sind und sehr unterschiedliche Gewohnheiten, und Werte haben und ob das auf die Dauer trägt. 

Lortzing hat um die 20 Werke komponiert, einige hat er vollendet, andere nicht, einige werden bis heute aufgeführt: Was ist der Mehrwert, den wir aus Lortzings Kompositionen ziehen können?

Ich denke, eigentlich habe ich das schon zum Teil beantwortet, also wo ich die attraktiven Elemente bei ihm sehe. Abgesehen davon ist es musikhistorisch immer interessant, wenn man auch frühere Werke mal wieder aufführt und dadurch Bezüge zu anderen Werken wiederentdeckt. Und da ist sicherlich noch eine ganze Menge zu tun. Gerade bei Werken wie Hans Sachs oder der sozialkritischen Revolutionsoper Regina, die ganz selten gespielt werden, bin ich sehr gespannt, was wir vielleicht noch entdecken werden.

Lortzing lebte und wirkte die meiste Zeit seines Lebens in Leipzig, er war gesellschaftlich etabliert und wurde vom Publikum gefeiert. Heute gibt es die Lortzingstraße. Wo erkennt man Lortzing heutzutage noch in Leipzig? Wo ist er präsent?

Ja, das ist schwer zu sagen, weil ja die Theaterbauten vielfach zerstört oder abgerissen und dann wieder neu gebaut wurden. Einen direkten Bezug sehe ich nicht. Hier in Leipzig gibt es einige Komponistenhäuser, allerdings kann man nicht zehn Komponistenhäuser parallel unterhalten. Was ich mir wünschen würde, wäre ein Zentrum, das sich der Pluralität der Komponisten, die in Leipzig zu tun hatten, widmet und wo Lortzing mit dabei ist. Es gibt ja auch andere, wie zum Beispiel Marschner, der kurz vorher in Leipzig an der Oper war. Eine Marschnerstraße gibt es hier auch, sogar eine Haltestelle (lacht). Darüber hinaus werden viele wahrscheinlich nicht wissen, wer das ist.

Lortzing war schon in jungen Jahren ein Publikumsliebling, v.a. in seiner Zeit in Leipzig angesehen und gesellschaftlich etabliert, war ein Familienmensch und wurde zum Hauptrepräsentanten der Spieloper. Können wir etwas von Lortzing als Mensch und Komponist lernen? Was können wir von ihm lernen?

Naja, er hatte ja Erfolge, es waren aber auch prekäre Erfolge. Also festangestellt als Kapellmeister war er doch nur kurz und sicher jemand, der viel improvisiert hat und in der Lage war - dass muss man ja im Theater (lacht) - kurzfristig und pragmatisch aus den Gegebenheiten, die man im Moment dort vorfindet, etwas zu entwickeln, das trägt, und das hat er dann auch gemacht. Und das kann in gewisser Weise sowohl künstlerisch, aber vielleicht auch darüber hinaus allgemein lehrreich sein.

Und zum Abschluss: wenn Sie Lortzing heutzutage treffen würden, worüber würden Sie mit ihm quatschen?

Ich würde ihn fragen, was er von Wagner hält (lacht).

 

Das Interview führte Franziska Schuchardt. Die Teilnehmer:innen des Projektkurses zu Albert Lortzing bedanken sich bei Professor Dr. Keym für das nette Gespräch und die Einblicke in Lortzings Zeit.

 

 

2. Lortzing als realer Augenblick auf der Bühne: Interview mit Professor Fuhrmann über den Komponisten Lortzing

Für das im Juni stattfindende "Lortzing Wochenende" hat der Projektkurs zu Albert Lortzing ein Interview mit Professor Fuhrmann geführt. Dabei ging es um Lortzing als Theatermensch, seine Wertschätzung gegenüber anderen und um Musicals.

Sie sind Professor für Musiksoziologie und Musikphilosophie mit den zusätzlichen Schwerpunkten Musikgeschichte des 15. Jahrhunderts, Wiener Klassik und Musiktheater des 19. Jahrhunderts. Gibt es noch etwas, das die Leser:innen unbedingt über Sie wissen müssen?

Ich komme aus Wien, wo Lortzing leider nicht die schönste Zeit seines Lebens verbrachte. Aber dort komponierte er einige wichtige Werke und wirkte bei der Revolution von 1848 mit. Dort ist er aber nicht im kulturellen Gedächtnis verankert und ich wusste, ehrlich gesagt gar nicht, dass er in Wien war. Und ich habe Germanistik studiert. Ich denke das reicht.

Wie und wann haben Sie Lortzing kennengelernt?

Erstaunlicherweise nicht über das Musiktheater, sondern über Konserven. Es ist eine Tatsache, dass Lortzing kaum noch in der Oper aufgeführt wird. Natürlich ist er als Name bekannt, aber ähnlich wie Heinrich Marschner oder Otto Nicolai – andere Vertreter der Spieloper des 19.Jahrhunderts – ist er heute im Repertoire eigentlich kaum mehr präsent.

Dass seine Musik in Leipzig einigermaßen gepflegt wird, ist sehr erfreulich. Ich muss aber gestehen, dass ich die Produktionen (Undine und Der Wildschütz) noch nicht gesehen habe.

Gab es etwas, das Sie bei der Begegnung mit Lortzing damals überrascht hat?

Ich muss schon sagen, dass ich von der Qualität der Musik positiv überrascht gewesen bin. Seine Musik ist gut gemacht und sie bleibt im Ohr. Auch vom Orchester ist es fein gearbeitet und die Stücke funktionieren dramaturgisch. Es gibt viele Musiktheaterstücke des 19. Jahrhunderts mit schöner Musik, wo man denkt, dass man die nicht auf der Bühne erleben muss. Lortzings Stücke haben lange funktioniert bis ins 20. Jahrhundert hinein und können, finde ich, auch wieder funktionieren.

Eines Ihrer Forschungsschwerpunkte ist das Musiktheater des 19.Jahrhunderts, u.a. beschäftigen Sie sich mit Wagner, der ein Zeitgenosse Lortzings ist. Gibt es Elemente, an denen sich Lortzing von seinen Zeitgenossen unterscheidet?

Wenn man speziell von Wagner spricht – Lortzing war nur 12 Jahre älter als Wagner – erkennt man, dass sie gemeinsame Erfahrungen hatten. Lortzing war in Leipzig und Wien tätig, die auch Wagner gut kannte. Beide waren ihre eigenen Librettisten, also hatten sie relativ viel gemeinsam. Wagner schätzte Lortzing wohl auch, weil er für ihn in keiner Weise eine Konkurrenz darstellte. Lortzing schrieb vorwiegend komische Opern und ist mit diesen bekannt geworden. Die kamen sich nicht ins Gehege, weswegen Wagner immer ein bisschen generöser war. Beide nahmen an den Revolutionen 1830 und vor allem 1848 Anteil, das verbindet sie auch. Lortzing war hier ein bisschen zurückhaltender als Wagner, der im wahrsten Sinne des Wortes auf die Barrikaden ging, dann steckbrieflich verfolgte wurde und ins Zürcher Exil musste. Ganz so schlimm lief es bei Lortzing nicht. Man kann sagen, dass Wagner in jeder Hinsicht die extremere Persönlichkeit war.

Ein anderer Zeitgenosse, der auch einen starken Leipzig-Bezug hat, war Heinrich Marschner, der sich allerdings mehr auf die ernste und düstere Oper gestürzt hat. Das hat Lortzing – außer in der Undine – eher vermieden. Ich finde, die deutsche Oper des 19.Jahrhunderts wird derzeit unterbelichtet, nicht nur was Lortzing betrifft, auch was Otto Nicolai betrifft, vor allem Die lustigen Weiber von Windsor. Das Interessante an Lortzing ist, dass er durch und durch ein Theatermensch war.

Während Wagner auch über die „musikaffinen“ Leute hinaus bekannt ist, ist Lortzing weniger bekannt. Wie kommt es, dass Lortzing nicht so berühmt wurde wie andere Komponisten seiner Zeit?

Das hängt mit dem kulturellen Gedächtnis zusammen. Lortzing war eine Zeit lang sehr renommiert als Komponist. Ich glaube nicht, dass er je als ein überragendes Genie, wie Mozart, Beethoven, sicherlich auch Wagner und andere, galt, aber er war jemand, der eine bestimmtes Genre bediente, nämlich die heitere Spieloper in deutscher Sprache mit gesprochenen Dialogen und das machte er auch sehr gut und wurde bis in die frühe Nachkriegszeit relativ häufig gepflegt. Auch in der Zeit des Nationalsozialismus wurde er natürlich als „deutscher“ Komponist auf die Bühne geholt. Das ist größtenteils verschwunden. Wagner hat eine andere Aufmerksamkeitsgewinnungsmaschinerie entfaltet durch seine Opern, politischen Thesen und Skandale. Wagner war Unruhestifter, wo immer er hinkam, und hat sich auch zu allem und jedem per Text zu Wort gemeldet. Er wollte etwas anderes als den gegenwärtigen Betrieb. Lortzing war eher jemand, der seinen Job machte und sich integrierte.

Wie kommt es, dass Lortzing heutzutage aus dem Repertoire verschwunden ist?

Das ist der Punkt, über den ich am meisten nachgedacht habe. Denn seine Musik ist durchaus reizvoll, aber Lortzing lebte in der Zeit des Biedermeier und Vormärz. Auf der einen Seite gab es das Beschauliche, ein bisschen Kitschige und sehr Bürgerliche und auf der anderen Seite die Unruhen der revolutionären Bestrebungen, also Nationalismus, Emanzipation des Bürgertums und so weiter. Beides lässt sich in Lortzings Stücken finden, wobei vor allem die Elemente, die zumindest eine Sympathie für die revolutionären Bestrebungen erkennen lassen, sehr versteckt sind. Wenn man seine Stücke heutzutage beurteilt, dann muss man daran denken, dass er in einer Zeit lebte, in der es Zensur gab und in der viele Stücke in der eigentlich geplanten Form nicht durchkamen. Lortzing versuchte als Theatermensch in einer Zeit, die politisch unter dem Druck des Metternich-Regimes stand, im kleinstaatlichen und kleinstädtischen Theatermilieu seine Familie zu ernähren, ein bürgerliches Dasein zu führen und Musik zu machen, die in der Zeit ankam. Und dann ist das auch so eine Sache mit komischen Stücken. Komische Stücke altern schneller als Tragische.

Wieso altern komische Stücke schneller als Tragische?

Ich würde sagen, weil sie akute Themen der Zeit behandeln und sich dabei oft an den sozialen Umständen der Zeit orientieren. Diese Figuren, die sich bei Lortzing ein bisschen wichtiger und ein bisschen lächerlich machen, zum Beispiel der Bürgermeister in Zar und Zimmermann, kannte damals jeder und jeder verband damit etwas. Das ist heutzutage ein bisschen in die Ferne gerückt, auch wenn es immer noch Wichtigtuer und von sich eingenommene Menschen gibt. In Lortzings Opern dominiert das Versöhnliche – mit wenigen Ausnahmen wie der Undine. Eine Kunst, die gemütlich ist und einen Wohlfühleffekt entfaltet, das wird heutzutage, glaube ich, nicht mehr geschätzt. In der Oper müssen immer irgendwie die Weltprobleme verhandelt werden.

Wie Sie festgestellt haben, hat Lortzing für die heutige Zeit fast zu wenig dramatische Opern geschrieben. Trotzdem werden sie heute aufgeführt. Sind Lortzings Werke heutzutage noch aktuell? Sollte man seine Werke noch spielen?

Ich denke nicht, dass sie besonders aktuell sind. Die Oper von ihm, die heute vielleicht am interessantesten wäre, wäre Die Schatzkammer des Ynka, aber die hat er offensichtlich selbst vernichtet, so dass wir nur das Libretto kennen, das ausnahmsweise von Lortzings Freund Robert Blum stammt, der ein politischer Revolutionär war und in Wien nach der Märzrevolution hingerichtet wurde. Man kann sich vorstellen, dass diese Oper durchaus ein starkes politisches Bewusstsein hatte oder zu vermitteln versuchte. Seine Oper Regina, die im Arbeitermilieu spielt und wo es um die Liebe von einer Fabrikantentochter zu einem Gewerkschaftsführer geht, ist ebenso ein Werk, das man heute aktualisieren könnte. Ich denke, wenn man die „konventionelleren“ Stücke mit Liebe macht, dann kann man sie auch ernst nehmen, vielleicht ein bisschen ironisch behandeln, aber sie können durchaus auf der Bühne funktionieren. Andere Inszenierungen von Spielopern, wie zum Beispiel die Inszenierung der Martha von Friedrich von Flotow in Frankfurt am Main zeigen, dass man die Opern neu inszenieren kann, ohne das Stück kaputt zu machen und ohne sich darüber lustig zu machen. Und das ist bei Lortzing auch möglich.

Lortzing hat um die 20 Werke komponiert, einige hat er beendet, andere blieben unvollendet, einige werden bis heute aufgeführt. Was ist der Mehrwert, den wir aus Lortzings Komposition ziehen können?

Man hat gelegentlich den Vergleich mit Mozart angestellt. Mozart geht es um den Menschen und die Beziehungen zwischen Menschen. In Le nozze di Figaro oder Così fan tutte geht es um erotische Beziehungen und Machtbeziehungen. Das spielt bei Lortzing auch eine Rolle. Lortzing interessierte sich für die Menschen, die er auf die Bühne stellte, er benutzte sie nicht als Sprachrohr, überhöhte sie nicht mythisch wie Wagner und setzte sie nicht grauenhaften Schicksalsentwicklungen aus wie Verdi. Lortzing nahm sie in ihrem alltäglichen Leben ernst und blickte mit einem gewissen liebevollen Blick auf sie – auch musikalisch. Das, würde ich sagen, ist die Qualität, die ihn vielleicht heute nicht populär macht, die aber zu seinen Stärken gehört.

Jetzt sind wir hier in Leipzig, an dem Ort, an dem Lortzing die meiste Zeit seines Lebens lebte. Hier hat es ihm durchaus gefallen, das Publikum hat ihn gefeiert. Heute gibt es die Lortzingstraße. Wo ist Lortzing in Leipzig präsent? Ist das Ausmaß angemessen oder sollte man Lortzings Präsenz in Leipzig ausbauen?

Ich finde es wunderbar, dass die Leipziger Oper zwei Stücke von Lortzing aufführt. Er war in erster – und vermutlich auch letzter Linie – Musikdramatiker. Ich glaube, das ist die beste Pflege, die man ihm angedeihen kann: ihn, der eigentlich halb vergessen ist, ins Repertoire zurückzuholen, so dass der Name dem Publikum selbstverständlicher wird. Das ist eine Leistung, die viel Geduld, einen langen Atem und Beharrlichkeit erfordert, aber die sich lohnen kann. Es gibt solche Renaissancen, Antonio Vivaldi zum Beispiel war vor den 1950er Jahren quasi unbekannt und heute wird Vivaldi vielfältig aufgeführt. Das kann man machen und ich denke, Lortzing wäre es wert. Er wird nie eine überragende Erscheinung sein, so hätte er sich, glaube ich, auch selbst nicht gesehen, aber man kann nicht immer nur die überwältigenden Genies feiern.

Also ist ihr Vorschlag, um mehr auf Lortzing aufmerksam zu machen, Lortzings Werke zurück auf die Bühne zu holen. Gibt es noch weitere Möglichkeiten, um auf ihn aufmerksam zu machen? Wir haben ja zum Beispiel auch die Lortzingstraße.

Ja, wir haben die Lortzingstraße, es gibt Gedenktafeln – auch in Wien – es gibt Tagungen, es gibt Biografie. Die Musikwissenschaft war sehr fleißig. Man kann sich über ihn informieren, aber letzten Endes lebt das Theater doch von der Präsenz, vom Augenblick. Und wenn Lortzing nicht wieder dieser reale Augenblick auf der Bühne zuteilwird, dann bleibt es eine Trockenübung. Das sage ich als Musikwissenschaftler eigentlich ein bisschen gegen mein Fach gerichtet. Natürlich sind Tagungen und Publikationen wichtig, aber der Einsatz für vernachlässigte Musik darf nicht im Akademischen allein steckenbleiben und man wünscht sich, dass die Musik und die Komponisten, für die man sich einsetzt, auch wieder präsent sind.

Lortzing war ein Familienmensch, hatte unterstützende Freunde, war seit jungen Jahren Publikumsliebling und wurde mit seinen Kompositionen zum Hauptrepräsentanten der Spieloper. Können wir etwas vom Menschen und Komponisten Lortzing für die Gegenwart lernen?

Lortzing war sehr bürgerlich, indem er eine Familie gründete und sich um sie kümmerte. Er war, glaube ich, kein Ellenbogenmensch, er versuchte, mit seinen Zeitgenossen gut auszukommen. Er soll wohl kein ganz guter Dirigent gewesen sein – die Berichte schwanken ein wenig – da er offensichtlich zu lieb oder verträglich war und sich beim Dirigieren von einzelnen gefangen nehmen lassen. Mir ist er als Mensch recht sympathisch und es gibt leider nicht so viele Komponisten, von denen man sagen kann, dass man mit ihnen gerne mal einen Abend verbringen würde. Lortzing war ein sehr geselliger Mensch und war auch hier in Leipzig im Geselligkeitsverein „Tunnel über der Pleiße“, in der es offensichtlich auch viel um Politik ging. Wir können Lortzings politische Haltung nicht hundertprozentig rekonstruieren, da er sich, wegen der damaligen Zensur, auch in seinen Briefen sehr vorsichtig geäußert hat, aber man kann sagen, dass er auf Seiten des Fortschritts stand.

Gibt es einen bestimmten Aspekt, an dem sie festmachen, dass sie Lortzing sympathisch finden?

Es gibt lustige Anekdoten über Lortzing, die ich jetzt aber nicht erzählen will, weil die auch ein bisschen zweifelhaft sind. Wenn man seine Briefe liest, gewinnt man den Eindruck, dass er ein Mensch war, der sich selbst nicht so wichtig nahm und nicht nur Egoist war– wieder zwei Dinge, die ihn von Wagner radikal unterscheiden (lacht). Er war jemand, der sich selbst gut kannte, wusste, was er gut konnte, was er nicht konnte und stolz war auf das, was er geleistet hat. Zar und Zimmermann wurde nicht nur in Deutschland gespielt, sondern international, sogar in Russland. Von diesem Erfolg war er völlig verblüfft und das finde ich sympathisch, dass er das nicht als selbstverständlich empfand.

Sie haben sich die Frage gestellt, welche Musik Lortzing heutzutage schreiben würde. Was ist Ihre Antwort?

Naja, es gibt nach wie vor ein populäres Musiktheater. Das ist das Musical. Es existiert immer noch und erzählt Geschichten, aber das aktuelle Musical finde ich meistens sehr transusig und weinerlich. Vielleicht könnte Lortzing ein bisschen mehr Humor reinbringen, so wie das Musical früher war. Ein bisschen Humor, ein bisschen Geist – das würde ich mir eigentlich von Lortzing erwarten. Und ich denke, dass das vielleicht sein Genre heutzutage wäre.

 

Das Interview führte Franziska Schuchardt. Die Teilnehmer:innen des Projektkurses zu Albert Lortzing bedanken sich bei Herrn Professor Fuhrmann für das nette Gespräch und die interessanten Einblicke in Lortzings Welt.

 

 

3. Interview mit Frau Dr. Capelle über Albert Lortzing und seine Offenheit gegenüber anderen

Anlässlich des im Juni stattfindenden "Lortzing Wochenende" hat der Projektkurs der Universität Leipzig zu Albert Lortzing ein Interview mit Frau Dr. Capelle geführt. Es geht um Lortzings Kompositionen, was ihn beeinflusste und seinen Umgang mit Menschen.

Sie sind Lortzing-Expertin, haben sich bereits 1984 mit Lortzings Briefen beschäftigt und später ein Werkverzeichnis erstellt und sind seit 2009 erste Vorsitzende der Albert-Lortzing-Gesellschaft e. V. Was sollen die Leser:innen noch unbedingt von Ihnen wissen?

Dass ich kein normaler Fan von Lortzing bin, sondern wirklich durch die Arbeit mit Lortzing erst zu einem Fan geworden bin. Bei mir kommt die Begeisterung durch die Arbeit mit den Quellen und seinen Werken. Es war nicht so, dass ich vorher schon zig Opern von ihm kannte und mich dann entschieden habe, dass ich mich mit ihm beschäftigen werde.

Wie kam es, dass Sie ein Fan von Albert Lortzing wurden?

Zuerst habe ich mich mit seinen Briefen auseinandergesetzt, die ich sehr interessant und menschlich sehr ansprechend fand. Auch wie er schreibt und was er schreibt gefiel mir sehr. Mit der Arbeit an einem Werkverzeichnis zu Albert Lortzing habe ich festgestellt, wie gut, pfiffig und auch abwechslungsreich seine Werke gemacht sind.

Ich bin unter anderem zu Lortzing gekommen, weil er sieben Jahre hier in Detmold als Schauspieler und Sänger war. Außerdem gibt es hier in der Landesbibliothek ein Lortzing Archiv mit den Originalquellen, diese Arbeit hat mich immer interessiert und dann bin ich quasi daran hängen geblieben.

Gab es etwas, das Sie von Lortzing im ersten Moment überrascht hat oder direkt im Kopf geblieben ist?

Ich habe bereits meine „Schulmusik-Staatsexamsarbeit“ über Albert Lortzing geschrieben und habe ich mich dort mit Lortzings Oratorium beschäftigt. Und dass Albert Lortzing ein Oratorium geschrieben hat, überraschte mich sehr, da man ihn ja nur als Opernkomponisten kennt. Das war aber in der Frühzeit und da hat er noch alles ausprobiert, später hat er sich für das Theater entschieden. Ich hatte später auch die Gelegenheit das Oratorium zu hören. Das war für mich sehr verblüffend, weil es in die Zeit zwischen Haydn und Mendelssohn fällt. Das war ja damals wirklich Tabula rasa. Inzwischen kennt man deutlich mehr Oratorien aus der Zeit, aber damals kannte man diese Zwischenzeit gar nicht.

Schon vor seiner Zeit in Detmold war Lortzing Wanderschauspieler und Sänger. Als er aufwuchs, wurde er vor allem musikalisch unterrichtet und komponierte bereits als Kind. Was hat Lortzing dazu bewogen Opern zu komponieren?

Die frühsten Kompositionen von Albert Lortzing sind kleine Stücke fürs Theater. Man benötigte damals für Schauspielmusik so etwas wie Einlagearien oder kleine Chöre. Da er völlig in der Theaterwelt aufgewachsen ist, hat er überwiegend fürs Theater geschrieben. Diese zwei geistlichen Stücke, die er geschrieben hat, die hat er, glaube ich, nur geschrieben, weil ihm dafür auch das Theaterpersonal zur Verfügung stand und er eine Aufführungsgelegenheit hatte. Als er nach Leipzig kam hat er sofort gemerkt, dass seine Chance als Komponist nur im Theaterbereich sein werde. Er wusste ganz genau, dass das Gewandhausorchester keine Symphonie von ihm aufführt. Er hat auch nie versucht eine zu schreiben. Er hat Werke, die nicht zu einer Oper gehören, komponiert, aber er hat nie versucht eine Symphonie zu schreiben. Ganz am Anfang hat er versucht etwas fürs Klavier zuschreiben, aber auch das haben die Verleger ihm nicht abgekauft und dann hat er es auch nicht mehr gemacht.

Was wollte Lortzing mit seinen Kompositionen erreichen?

Man würde sagen er war wenig ambitioniert. Er wollte sein Publikum unterhalten, er schrieb fürs Publikum und hat immer gesagt, dass wenn er mit seinen Kompositionen den Leuten schöne Stunden bereite, ihm das reiche. Viel mehr hat er dazu nicht gesagt. Ich glaube auch nicht gewollt.

Lortzing begann 1823, mit ungefähr 22 Jahren mit seiner ersten Komposition, seine letzte Komposition schrieb er 1850. Was unterscheidet Lortzings letzte Werke von seinen Ersten?

Wenn man wirklich von seinem ersten Werk Ali Pascha von Janina und seinem Letzten Die Opernprobe ausgeht, dann fällt auf, dass beide nur einaktige Werke sind. Die sind nicht abendfüllend. Das liegt an Lortzings Biografie. Ganz zum Schluss ging es ihm finanziell wieder sehr schlecht und da hat er wieder zum Prinzip des Einakters gegriffen, wobei sich die beiden Einakter aber sehr unterscheiden, weil man bei Ali Pascha von Janina wirklich noch hört, dass er noch lernt. Es ist instrumentatorisch noch nicht ausgefeilt, wie er es später konnte und es enthält weniger Ensembles für die er ja sehr berühmt ist. Das war seine große Kunst hinterher gewesen und das ist in Ali Pascha von Janina nicht, das muss man ganz eindeutig sagen. Diese Oper ist noch aus der Zeit vor Detmold, auch wenn sie in Detmold uraufgeführt worden ist. Ich behaupte immer, dass er mit einer Arie, die er kurz vor seinem Start in Detmold geschrieben hat, instrumentatorisch sehr viel gelernt hat. Da hat er die Bläser unabhängiger geführt, hat Cello und Kontrabass nicht immer gleichzeitig spielen lassen etc. – das kann man dort sehr gut beobachten.

Undine, Zar und Zimmermann, Der Wildschütz werden unteranderem bis heute aufgeführt, aber auch Hans Sachs ist bekannt. Gibt es etwas, das seine berühmtesten Opern ausmacht? Haben sie eine Gemeinsamkeit?

Gemein haben die Opern, dass sie die Bandbreite von schlichtem Lied bis großes Ensemble haben, was dem Publikum, glaube ich, immer ganz gut gefallen hat. Um dieses schlichte Lied gab es immer etwas Streit, ob das in der Oper noch passt, deswegen gibt es das in der Oper Der Wildschütz nicht mehr, da es nach der Uraufführung rausgeflogen ist. Ein Kriterium ist, dass es eingängige Musik und sehr bühnenwirksam ist, was den Leuten im Theater oft gefallen hat. Aber es gab auch Unterschiede. Bis in die 1950er/1960er Jahre war zum Beispiel Undine fast berühmter als Zar und Zimmermann und Der Wildschütz, während das jetzt in Leipzig fast neu entdeckt worden ist.

Kann man sagen, wie sich die bekannteren Werke von den weniger bekannten Werken unterscheiden?

Bei manchen Sachen wundert man sich, dass sie nicht so bekannt sind. Ich finde zum Beispiel Casanova auch sehr gut. Manchmal unterscheiden sich die Stoffe ein bisschen. Das Fischerstechen hat einen sehr eindeutigen Bezug zu Leipzig und war deshalb schwieriger zu adaptieren. Eigentlich ist das eine genauso interessante Verwechslungskomödie wie andere, aber die Oper hat es immer schwer gehabt. Ich weiß nicht, ob es nur an diesem Lokalkolorit liegt. Er hat ja fast jährlich fast eine Oper geschrieben und es konnten sich nicht alle so halten, aber Anfangserfolge hatten sie eigentlich alle, aber sie sind nicht überall gleichviel adaptiert worden.

Mit der Aufführung der „Undine“ in Leipzig wurde das Werk unter anderem für seine gesprochenen Teile kritisiert. Was wird darüber hinaus am meisten an Lortzing und seinen Werken kritisiert? Was wurde damals am meisten kritisiert?

Heutzutage tut man sich mit den gesprochenen Dialogen Lortzings noch schwerer als früher. Das liegt an der Entwicklung. Lortzing ist ja noch groß geworden in einem Theaterbetrieb, wo die Trennung von Schauspielern und Sängern noch nicht so groß war. Eigentlich mussten alle die auf der Bühne waren an beiden Gattungen teilnehmen. Die, die wirklich gute Sänger waren, die mussten dann vielleicht nur Statisten oder eine kleine Rolle spielen, aber vor allem die Schauspieler mussten oft im Chor auftreten. Man konnte auch mal in eine Oper eine reine Sprechrolle reinbauen, wie in Der Wildschütz z. B. Pancratius. Man hatte das Personal und wollte das machen. Heute braucht man dafür extra jemanden aus dem Schauspielensemble, was, glaube ich, nicht so ganz einfach ist. Das ist, glaube ich, heute das Problem. Das war es damals nicht, weil es diese Gattung mit gesprochenem Dialog sehr viel gab. In Regina gibt es relativ wenige gesprochene Teile und zum Schluss dann gar keine mehr. Das war im 19. Jahrhundert auch einfach noch ein Gattungsunterschied: es gab die mit gesprochenen Dialogen, die aus Frankreich adaptierten, und es gab die ohne Dialog. Und Lortzing hat ganz eindeutig gesagt, dass er mit Dialog schreibt, da er immer fand, dass deutsche Sänger Rezitative zu steif singen.

Lortzing war zu Beginn seines Lebens Wanderschauspieler und hat in vielen deutschen Städten gearbeitet. Zu Beginn war er mit seinen Eltern unterwegs, später auch mit seiner Frau. Familie hat ihn also immer begleitet. Was hat ihn in seinem Leben darüber hinaus geprägt? Was ist davon in seinen Werken wiederzuerkennen?

Ja, die Familie hat ihn sehr geprägt, er brauchte familiäre Stabilität, die offensichtlich bei ihm vorhanden war. Ebenso wichtig waren für ihn Freundschaften, die meistens auch beruflich entstanden sind. Selbst von außerhalb wurde gesagt, dass es ein ausgesprochen kollegiales freundschaftliches Verhältnis unter den Schauspielern und Sängern gebe und relativ wenig Konkurrenz und das hat ihn in Leipzig sehr fasziniert und das brauchte er auch. Seine Freunde Phillip Düringer und Phillip Reger schrieben manchmal Verse für ihn, da die das besser konnten. Er sprach mit ihnen auch über die Arbeit, das ging bei denen eins in eins.

Andererseits war Lortzing ein politisch sehr wacher Mensch. Das war für ihn auch sehr bestimmend und da hat er sich auch in Leipzig ausgesprochen wohlgefühlt. Dadurch dass Leipzig Messestadt war, kriegte man alle Neuigkeiten sehr gut mit und es war etwas offener als in anderen Städten.

Lortzing hat in seinen Werken u.a. gesellschaftliche Themen seiner Zeit aufgegriffen, z.B. Standesunterschiede. Außerdem war seine Zeit von einem anderen Zeigeist geprägt als heute. Sind seine Werke heute noch aktuell? Soll man Lortzing heutzutage noch spielen?

Er spielt in seinen Libretti oft mit Standesunterschieden, wobei das, was an Unterschieden dargestellt wird, auch heute noch existiert, ohne dass man das als Standesunterschiede bezeichnet. Es ist nicht immer nur Adel und Bürgertum, sondern auch die Karikatur des Bürgermeisters Van Bett in Zar und Zimmermann kommt heute immer noch gut an, weil es Personen kritisiert, die meinen sie wären nur etwas durch ihre Funktion ohne, dass das unterfüttert ist und das kann man heutzutage sehr gut unterbringen und ist weiterhin aktuell. Seine Opern sind von einer Akzeptanz jedes Menschen, so wie er ist, geprägt. Das ist nach wie vor absolut aktuell. Es ist vielleicht manchmal ein wenig aus der Zeit gefallen, aber der Van Bett muss nicht mehr mit Perücke auftreten, das kann man auch anders machen.

Gibt es darüber hinaus etwas, das wir von Lortzing als Mensch und Komponist lernen können? Oder in die heutige Zeit übernehmen können?

Ich schätze immer an ihm seine Offenheit gegenüber anderen Personen und seinen Versuch alle Leute ernst zu nehmen und zu schätzen. Er muss ein ausgesprochen freundlicher und zugewandter Mensch gewesen sein, und von einer gewissen Achtung gegenüber den Leuten, mit denen er zu tun hatte. Damals wurden die Opernpartituren noch abgeschrieben und er hat Leute beschäftigt, die das für ihn taten und die hat er dann bezahlt und auch wertgeschätzt. Und er sagte, dass er es schön findet, dass er anderen Leuten, die noch ärmer sein als er helfen könne. Später musste er wieder selbst schreiben, weil er sich das nicht leisten konnte. Diese Grundhaltung hat mich immer wieder fasziniert.

Außerdem ist auffällig – das hat noch mehr der Kollege Jürgen Lodemann aufgebracht – dass man bei ihm kein einziges antisemitisches Wort findet weder in den Opern noch in den Briefen. Wenn man mal in die Zeit reinschaut, dann merkt man, dass das nicht so selbstverständlich war.

Lortzing schrieb mit seinen Freunden und seiner Familie Briefe, ca. 200 Jahre später gibt es neben Briefen nun auch Blogs und soziale Netzwerke, um seine Meinung zu teilen oder Messengerdienste, um mit anderen zu kommunizieren. Wenn Lortzing zur heutigen Zeit leben würde, würde er einen Blog haben?

Da bin ich nicht sicher. Er hat sich zwar in seinem Freundeskreis offen ausgesprochen, aber er fühlte sich nicht als jemand, der meinte er hätte etwas wichtiges, auch auf politischer Ebene, zu sagen für andere Leute. Das hat er lieber Robert Blum machen lassen. Er hat gut mit denen diskutiert, wobei dann auch unterschieden wurde, was im privaten Rahmen und was in einem etwas öffentlicheren Rahmen besprochen wurde, aber er hat sich sonst zu der politischen Landschaft nicht geäußert, das war, glaube ich, nicht sein Ding. Er wäre auch kein Politiker geworden. Lortzing war selbst nie ein öffentlicher Redner. Er sagte selbst, dass er sich einmal auf der Bühne bedanken musste und da ist er vor Erstaunen, dass er nicht ins Stocken gerät, ins Stocken geraten. Er konnte zwar gut spielen, aber eine Dankesrede lag ihm nicht. Von daher denke ich, dass er auch keinen Blog schreiben würde.

Vielleicht würde er eher mit Freunden und Familie über einen Messengerdienst schreiben?

Das könnte ich mir vorstellen.

 

Das Interview führte Franziska Schuchardt. Die Teilnehmer:innen des Projektkurses zu Albert Lortzing bedanken sich bei Frau Dr. Capelle für das nette Gespräch und die Einblicke in Lortzings Leben und Schaffen.