Die Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 hat das Leben zehntausender Menschen im Nordosten Japans – in der Tôhoku-Region – vernichtet, das von Hundertausenden mit einem Schlag verändert. Sie wird nicht nur Japan, sondern vermutlich die Welt verändern, auch wenn heute niemand sagen kann, in welcher Weise.

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Logo des DFG-geförderten Forschungsprojektes "Japan’s Split Society"
DFG-Projekt "Japans gespaltene Gesellschaft. Diskursive Konstitution Japans zwischen Atombombe und Atomkraftwerk". Grafik: Felix Jawinski

Diese AKW-Erdbebenkatastrophe ist auch ihrer medialen Repräsentation wegen von Beginn an ein globales Ereignis, und sie ist daher auch von Anfang an medial umstritten. Wer wie in welchem Medium über welche Aspekte der Katastrophen und in welcher Tonart berichtete und berichtet – das hat nicht nur wohlwollende Aufnahme, sondern auch Unmut oder  gar Wut hervorgerufen. Deutlich geworden ist unter anderem auch eine tiefe Kluft zwischen den herkömmlichen Mainstream-Medien und den sogenannten Neuen Medien, insbesondere  dem Internet. Kritische Stimmen, die längst auch in Japan wieder und wieder gewarnt hatten vor möglichen, nun bittere Realität gewordenen Gefahren der sogenannten „friedlichen Nutzung der Atomkraft“, konnten (und können) in ersteren kaum, in letzteren – den Neuen Medien, aber sehr wohl gefunden und vernommen werden. Außer Themen wie diesen werden im Rahmen dieses Schwerpunkts u.a. auch folgende problematisiert und erforscht: Arbeit in den AKW (insbesondere die bislang „unsichtbaren“ sogenannten „AKW-Gipsy“), die Geschichte der Nutzung atomarer Energie in Japan und Proteste dagegen, die Nuklearisierung von Gesellschaft und Kultur (einschließlich Sprache), Energiediskurse/-kulturen.

Themen & Projekte

DFG-Projekt (2018–2022)

Die gespaltene Gesellschaft: Diskursive Konstitution Japans zwischen Atombombe ("genbaku") und Atomkraftwerk ("genpatsu")

Ziel des Projektes „Die gespaltene Gesellschaft: Diskursive Konstitution Japans zwischen Atombombe (genbaku) und Atomkraftwerk (genpatsu)“ ist es, die Nachkriegsrealität in Japan aus der Perspektive des „Atoms“ zu analysieren und diesbezüglich bislang disziplinär separiert untersuchtes Material zu synthetisieren. Ausgegangen wird von der These, dass der zwischen der „negativen“ (genbaku) und „positiven“ Kernenergie (genpatsu) aufgespannte Diskursraum über „Hiroshima“, „Nagasaki“ und „Fukushima“ ein zentrales Element des Dispositivs des Atomaren bildet. Dieser hat an der Konstituierung der historischen, gesellschaftlichen und politischen Wissensordnungen in Japan mitgewirkt und wirkt weiterhin mit. Eine umfassende Untersuchung von heterogenen diskursiven Praktiken mit ihren verschiedenen Akteuren soll erstmals ihre ganze historische Verflechtung (vertikal und horizontal) sichtbar machen, rivalisierende Kräfteverhältnisse auch mit ihren Rissen und Bruchlinien (DELEUZE 1991) im Dispositiv zum Vorschein bringen, die diese Wissensordnungen auf den Prüfstand stellen, und die soziokulturellen Kontexte, die letztlich zu Formierung und Dominanz des Dispositivs beitrugen und beitragen, offenlegen. Die beiden Teilprojekte fokussieren jeweils auf eine Seite der Kernenergie (genbaku vs. genpatsu) und arbeiten diskusanalytisch heraus, wie „Texte“ und „Bilder“ das Atom artikulieren, wie in ihnen Prozesse der Inklusion/Exklusion, der Homogenisierung/Marginalisierung stattfinden und sie dabei selbst zu zentralen, in ihrer Getrenntheit immer zugleich interdependent konstituierenden Praktiken des Dispositivs des Atomaren werden.

Projektbeschreibung (De / EN) (Uni Leipzig)

Projektbeschreibung (DFG)

Teilprojekte

Operationalisiert wird das Vorhaben über zwei methodisch und inhaltlich miteinander verwobene Teilprojekte, die beide Seiten der Kernenergie (genbaku und genpatsu) in den Blick nehmen und diskursanalytisch herausausarbeiten, wie „Texte“ und „Bilder“ das Atom re-präsentieren und artikulieren. Vor allem in Ausstellungs- und Bildungskontexten wird untersucht, wie in ihnen Prozesse der Inklu­sion/Exklusion, der Homoge­nisie­rung/Margi­na­lisierung stattfinden und sie dabei selbst zu zentralen konstituierenden Praktiken des Dispositivs des Atomaren werden.

Teilprojekt 1 „Literarische Artikulationen des Atomaren“ widmet sich der literarischen Darstellung der Atombombenabwürfe auf Hiroshima bzw. Nagasaki und fragt zudem nach strukturellen Ähnlichkeiten der diskursiven Endpunkte des aufgespannten Zeit-Raumes, unter Berücksichtigung der neuen Medien als wirkmächtige Identitätskonstituenten. Teilprojekt 2 „Alltagskulturell-bildsprachliche Artikulationen des Nuklearen“ fokussiert visuelle Darstellungen der „friedlichen Atomkraft“ (genpatsu), deren analytisch von genbaku getrennte Betrachtung erforderlich ist, um die Logik der Dichotomisierung beider stets untrennbar miteinander verwobenen Energien offen legen zu können. Zu analysieren sind Mechanismen, wie genpatsu mittels Bildern und Dokumentationen in Gestalt von „Nukesspeak“ in das Alltagsleben eindrang und von dort wiederum aktiv an der Formation des atomaren Dispositivs mitgewirkt hat.

Teilprojekt 1:

Literarische Artikulationen des Atomaren

Kontakt: Sonja Hülsebus (Universität zu Köln)

Teilprojekt 2:

Alltagskulturell-bildsprachliche Artikulationen des Nuklearen

Kontakt: Felix Jawinski (Universität Leipzig)

Online-Vortragsreihe (23.04.2021 – 24.07.2021) im Rahmen des DFG-Projektes

Japans gespaltene Gesellschaft zwischen “Genbaku” und “Genpatsu”: Medien, Propaganda, Wissenschaft

Die Veranstaltung fand auf Japanisch und Englisch statt.

 

VeranstaltungsProgramM (Jap / EN)
PDF 2 MB

Projektbeschreibung (Jap / EN / De)
PDF 2 MB

 

Veranstaltungsprogramm (Online)

 

Textinitiative Fukushima

Die Textinitiative Fukushima wurde im April 2011 ins Leben gerufen. An ihr beteiligen sich die kulturwissenschaftlich arbeitenden Japanologien Frankfurt (Prof. Dr. Lisette Gebhardt) und Leipzig (Prof. Dr. Steffi Richter); auch Zürich (Prof. Dr. Raji C. Steineck) hat sich der Initiative angeschlossen. Das Projekt setzt es sich zum Ziel, Texte verschiedener japanischer Akteure der Debatte um Fukushima ins Deutsche zu übertragen. Übersetzt und kommentiert werden sollen Beiträge aus den Wissenschaften, aus dem Journalismus, der Politik, der Kunst, der Literatur, der Philosophie oder der Popkultur: also Aktuelles, Tiefgründiges, Diskussionswürdiges zu den Katastrophen und ihren Kontexten.

Zur Textinitiative Fukushima

 

zur Vergrößerungsansicht des Bildes:
Plakat Bürgerproteste: „Atomkraft? Abgelehnt!“ Quelle: TIF

Energie Tagung 2015

Veranstaltet wurden drei Panels entlang einer vertikalen (diachronen) und einer horizontalen (synchronen) Achse. „Energie und Japan“ ist einmal im zeitlichen Wandel Vergangenheit („Meiji- und Nachkriegs-Japan“), Gegenwart („Postnachkriegs-Japan“) und Zukunft („Green capitalism“? „Degrowth-“/ Postwachstumsgesellschaft? Szenarien nach „Fukushima“ und Energiereformen) zu diskutieren. Oder anders gesagt: vom fossilenergetisch basierten Zeitalter industrieller Wachstumsgesellschaften hin zum Umbau der Gesellschaften und Kulturen als „postkarbone“. Zugleich ist – gemäß dem seit der Gründung der VSJF verfolgten Ziel, Gesellschaft und Kultur zusammenzudenken und interdisziplinär zu arbeiten – vorgesehen, verschiedene disziplinäre, methodisch-theoretische Ansätze synchron miteinander ins Gespräch zu bringen: „Schwarzes Gold“ (Kohle/Erdöl) und die aus ihm gewonnene elektrische Energie sind auch für Japans kapitalistisch-kolonialistische Moderne nicht nur in ökonomisch-politischer Hinsicht von zentraler Bedeutung. Sie haben sich auch in die mentalen Infrastrukturen (Harald Welzer), in die Lebenswelten, ja in die Sprache/n eingeschrieben und sind zudem wichtige, stets umstrittene Topoi der Japan/er-Diskurse (nihon(jin)ron) geworden – man lese aus dieser Perspektive Tanizakis „Lob des Schattens“, Watsujis Klimatheorie in „Wind und Erde“, denke an das Loblied auf „bright life“ (akarui seikatsu) im Nachkriegsjapan. Die aus der Spaltung des Atomkerns entstehende Energie war nicht nur selbst seit ihrer Schaffung von der Spaltung in „gut“ und „böse“, in traumatische Erfahrung und hoffnungsvolle Erwartung gezeichnet – sie spaltete und spaltet weiterhin auch die Gesellschaft in vielfacher Hinsicht: nicht zuletzt räumlich in Atomenergie produzierende Provinzen/Dörfer und diese hauptsächlich konsumierende Metropolen, in eine privilegierte Stammarbeiterschaft in der Stromindustrie und nomadisierende bzw. „Dekasegi-Wegwerfarbeiter“. Bei möglichen Zukunftsszenarien angesichts der „Fukushima“- wie auch der global drohenden Klima-Katastrophen stellt sich die Frage, welche Varianten der Interaktion von Wirtschaft, Politik, Natur, Lebenswelten und Wertegemeinschaften von ihnen entworfen und artikuliert werden.

Diese Betrachtungen sollen vor einem trans- und interkulturellen bzw. trans- und internationalen Hintergrund stehen. Als kulturwissenschaftlich orientierte Lehr- und Forschungseinrichtung zu Japan von der späten Neuzeit (ausgehendes 18. Jh.) bis zur Gegenwart legt die Leipziger Japanologie ein breites Verständnis von Kultur zugrunde, das a) sozial- und regionalspezifische Alltagskulturen ebenso einschließt wie kulturell bedingte Spezifika in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen Wirtschaft, Politik, Bildung etc.; und das b) von Japans Weg in die Moderne als lokale Flexion synchron ablaufender soziokultureller Prozesse auf globaler Ebene versteht, der bei aller spezifizierenden historischen Pfadabhängigkeit zugleich in einem transnationalen und transkulturellen Kontext zu untersuchen ist – was natürlich auch auf das Themenfeld „Energie“ zutrifft.

Publikationen

Sammelband

NOlympics. Tokyo 2020/1 in der Kritik

Richter, Steffi; Singler, Andreas; Mladenova, Dorothea (Hrsg.). NOlympics. Tokyo 2020/1 in der Kritik. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. 2020. ISBN: 978-3-96023-347-3

Abstract: Nur kurz nach der Dreifachkatastrophe von 2011 in Nordost-Japan wurden die 32. Olympischen Sommerspiele an Tōkyō vergeben – und das rief keineswegs nur Freude und Begeisterung in der Bevölkerung hervor. Ebenso rasch begannen sich Skepsis und Ablehnung zu etablieren, die sich seither in vielfältigen Formen artikulieren. In diesem Band kommen Autorinnen und Autoren aus Japan, Deutschland und den USA zu Wort, die als kritische oder gar oppositionelle Stimmen zu den vielfältigen Zumutungen dieses sportlichen Mega-Events im Post-„Fukushima“- Japan Stellung beziehen. Einige von ihnen agieren selbst in Protest-Bewegungen, die mit „NOlympics“-Gruppen in anderen Teilen der Welt ein transnationales Aktionsnetzwerk bilden. Die Beiträge verschränken wissenschaftliche Spezialdiskurse u.a. aus Bewegungstheorie, Politologie, Japanologie, Sportwissenschaft und den Gender Studies mit politischen Praktiken der gegenwärtigen Anti-Olympia-Bewegung. In ihrer Gesamtheit legen sie das zu „Wiederaufbau-Spielen“ verklärte Spektakel Tōkyō 2020 als das offen, was es tatsächlich ist: Ausdruck des für das 21. Jahrhundert typischen „Katastrophen- und Feier-Kapitalismus“, der für soziale Exklusion ebenso steht wie für Gefährdungen der Demokratie.

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: NOlympics. Bild: Buchumschlag des Sammelbandes "NOlympics. Tokyo 2020/1 in der Kritik"
NOlympics. Bild: Buchumschlag des Sammelbandes "NOlympics. Tokyo 2020/1 in der Kritik"

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