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Ein Beitrag von Dorothea Mladenova

Das Doppelgrabsystem auf Shishijima

Für meine Doktorarbeit zum Thema shūkatsu ("Vom optimierten Ableben des unternehmerischen Selbst – shūkatsu (終活) in Japan"; Universität Leipzig 2019) bin ich für Feldforschung nach Japan gereist. Bei shūkatsu geht es darum, sich auf sein eigenes Ableben vorzubereiten, indem man sich z.B. Gedanken darüber macht, wie und wo man bestattet werden möchte. Um die Veränderungen der Bestattungsvorlieben und Gepflogenheiten verstehen zu können, ist es notwendig, sich mit der historischen Entwicklung des Begräbnisses in Japan vertraut zu machen. Besuche von Friedhöfen und in Kolumbarien stehen daher ebenso auf dem Plan wie Recherchen in der Bibliothek.

Überblick zur Bestattung in Japan

Die Kremation ist heutzutage mit fast 100% die gängige Bestattungsform in Japan. Dies war jedoch nicht immer schon so, sondern entwickelte sich erst in der Moderne. Erst im Jahr 1935 überstieg der Anteil der Feuerbestattungen denjenigen der Erdbestattungen; bis zur Edo-Zeit leisteten sich nur wohlhabende Familien die aufwendige Prozedur der Kremierung. Auch die heute dominante Form des Familiengrabs, in dem die Urnen mehrerer Generationen eines ie (家) – nach dem Krieg tendenziell nur noch der Kernfamilie – beigesetzt werden, begann sich erst seit Ende der Meiji-Zeit (1868-1912) zu verbreiten und setzte sich zu Beginn der Shōwa-Zeit (1926-1989) durch. Bis dahin waren Einzelgräber die gängige Form.

Erdbestattungsgräber sind fast vollständig aus dem Landschaftsbild verschwunden, doch finden sich etwa auf den Inseln in der Japanischen Inlandssee (setonaikai 瀬戸内海) noch Überreste dieser überkommenen Tradition. Besonders hervor sticht dort der Brauch des Doppelgrabs, bei dem einem Verstorbenen gleich zwei Gräber errichtet werden (daher als „Zweigräbersystem“ oder „Doppelgrabsystem“, ryōbosei 両墓制, bezeichnet). Das Bestattungsgrab (umebaka 埋墓) dient der Beisetzung der Leiche, wohingegen die buddhistische zeremonielle Andacht am Verehrungs- oder Besuchsgrab (mairibaka 詣墓) stattfindet. Das System ist nicht von Anfang an in seiner heutigen Form entstanden, vielmehr entwickelte sich der Brauch, neben dem Knochengrab auch eines zur Andacht zu errichten, das nicht vom Tod verunreinigt ist, erst mit Verbreitung des Buddhismus und der darin verwurzelten Totenandacht.

Einen guten Zugang zur Besichtigung dieses Systems erhält man von Shikoku aus. Dort legen Fähren zu kleineren Inseln in der Inlandssee ab, auf denen die Entvölkerung (kasoka 過疎化) deutlich zu spüren ist. Mit dem Auto geht es von Tokushima aus Richtung Westen, vorbei an Marugame bis nach Takuma-chō in Mitoyo-shi. Von dort aus dauert es mit der Fähre nur 20 Minuten bis nach Shishijima (志々島), einer Insel mit einer Bevölkerung von derzeit 17 Personen (Februar 2017, erste Besiedlung vermutlich in der Heian-Zeit).
Bekannt ist die Insel von den Dreharbeiten zur 1993 erschienenen Episode der Serie „Otoko wa tsurai yo“, deren Macher sich nicht zuletzt wegen der einzigartigen umebaka-Anlage für diesen Drehort entschieden haben. Früher gab es auf der 3,8km umspannenden Insel 4 Siedlungen mit bis zu 1000 Einwohnern, inzwischen ist nur eine tatsächlich bewohnt. Die Landschaft wird dominiert von verlassenen Häusern und Geschäften, aber auch hier und da von einigen Blumenfeldern, die von den wenigen Bewohnern weiterhin bepflanzt werden. Früher – das ist auch im o.g. Film zu sehen – erstrahlten die Hänge der Insel lückenlos in den bunten Farben der Blumenbeete. Das Süßwasser wird von der größeren Nachbarinsel Awashima geliefert und ein Arzt kommt etwa einmal die Woche in die örtliche Praxis, um die überwiegend über 75-Jährigen zu untersuchen. Es gibt keine Autos, als einziges Fortbewegungsmittel dienen Fahrräder, hier und da stehen Bagger herum.

Nur wenige Minuten vom Hafen entfernt befindet sich die umebaka-Anlage, auf der die bunt angestrichenen Holzhäuschen in der Größe von Hundehütten der Sonne entgegenstrahlen. Ohne einen entsprechenden Hinweis käme man bei dieser fröhlichen Anordnung nicht auf die Idee, dass es sich hier um einen Friedhof handelt. „Früher waren da noch viel mehr Häuschen, meist blau angestrichen, vor allem um der Witterung standzuhalten“, erzählt der örtliche Café-Betreiber. Das Café ist jeweils eine halbe Stunde vor und nach Eintreffen der Fähre geöffnet und stellt neben dem Hafen den einzigen Treffpunkt in der Siedlung dar. „Ich habe selbst meine Großeltern hier begraben. Wenn jemand verstirbt, graben die Enkel und Kinder ein Loch“, berichtet der Café-Betreiber von seinen Erfahrungen. Der Körper des Verstorbenen wird dabei sitzend in einen runden Sarg gelegt. Wenn man das Loch aufbuddelt, kommen natürlich die Knochen früherer Vorfahren zum Vorschein. Da diese dann aber schon zu Erde geworden sind, können sie wieder vergraben werden. Darüber kommt der neue Sarg. Zusätzlich gibt es auf dem Hügel einen Tempel mit einer mairibaka-Anlage. O-mairi suru (お参りする) bedeutet je nach Kontext Grab- oder Tempelbesuch, so kommt der Name für die als „Besuchsgrab“ bezeichneten mairibaka zustande. Doch die Leute auf Shishijima bevorzugen für den Grabbesuch stattdessen die umebaka-Anlage. „Da liegt immerhin der Körper drin, daher fühlen wir uns dem irgendwie mehr verbunden“, heißt es im Café.

Eigentlich gibt es keine Übernachtungsmöglichkeiten in dem Örtchen, doch der Café-Betreiber hält sein I-Pad hoch und zeigt sein Listing auf der Hotel-Plattform airbnb, das er im Herbst 2016 eingerichtet hat: für ¥2000 pro Person/Nacht (ca. 18€) kann man dort einen Futon im japanischen Zimmer (washitsu 和室) mieten, bis zu 6 Personen haben Platz. Es sind wider Erwarten (oder in Anbetracht der gewählten Plattform nicht überraschend?) nicht ausschließlich Japaner, die den Weg auf die Insel finden, sondern Gäste aus aller Welt. Ein chinesischer Gast hat zuletzt zwei Wochen lang die Stille für das Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit genutzt; demnächst haben sich Gruppen aus Frankreich und Deutschland angekündigt.

Die umebaka nehmen eine viel kleinere Fläche als noch vor einigen Jahrzehnten ein, die sinkende Bevölkerung macht sich auch am Friedhof bemerkbar. Oberhalb des Hafens beginnt schon der Aufstieg zur 109m hohen Spitze der Insel, an deren Hang ein (verlassener) Tempel steht. Hinter diesem befindet sich ein überwachsener Hügel mit den Besuchsgräbern (mairibaka), deren Grabsteine die heute übliche Form buddhistischer Gräber haben. Ein Schild mahnt zur Vorsicht vor herabfallenden Steinblöcken, denn zur rechten Seite des Weges wird der Friedhof nicht mehr gepflegt, die Grabsteine liegen kreuz und quer. Die dort verehrten Seelen sind zu mu’en-botoke (無縁仏) geworden, Buddhas ohne Verbindungen ins Diesseits, also ohne jemanden, der ihr Grab pflegt und für sie betet. Die dazugehörigen Gräber werden entsprechend als mu’en-baka (無縁墓) bezeichnet. Neben dem verlassenen Besuchsfriedhof mit Gravierungen aus der Edo-Zeit findet sich auf der linken Seite ein neuerer, dessen Jahreszahlen auf Shōwa- und Heisei-Zeit verweisen und an dessen Grabsteinen auch frische Blumen bzw. frisch aussehende Kunstblumen ragen. Die meisten Hinterbliebenen sind zum Arbeiten aufs Festland gezogen und kehren nur für die Grabpflege zurück. Eine Tafel am Hafen zeigt Fotos von Sportfesten (undōkai 運動会) vergangener Jahre, bei denen die Insel durch ehemalige und aktuelle Inselbewohner belebt wurde, die letzten Fotos liegen allerdings schon mehrere Jahre zurück. Die örtliche Mittelschule, nur wenige Meter vom umebaka-Friedhof entfernt, ist seit Jahren geschlossen.

Warum die Tradition der Doppelgräber nur in Zentraljapan und nicht darüber hinaus verbreitet war, ist ungeklärt. Bis vor Kurzem wurden auf Shishijima noch solche Gräber errichtet, was besonders spannend ist, da in Japan aus pragmatischen Gründen die Weggezogenen eher ein Grab in ihrer Nähe suchen, das sie ohne große Umstände besuchen und pflegen können. Wer allerdings Wert auf Familientraditionen legt, wird nicht umhin kommen, der Insel zumindest einmal jährlich zum O-bon-Fest (お盆) oder zu einer der Tages- und Nachtgleichen (higan 彼岸) einen Besuch abzustatten. Auf diese Weise sorgen die Toten dafür, dass die Insel noch häufig von Lebenden aufgesucht wird, die keine Touristen sind.

Dennoch ist Tourismus die primäre Quelle von Besuchern auf der Insel. Auf der Fähre, die drei Mal täglich fährt, sind etwa 15 Personen, von denen ca. 8 auf Shishijima aussteigen. Der Rest fährt weiter auf die nächsten Inseln. Die in der Touristeninformation ausgeteilten Pläne enthalten topographische und touristische Karten der Inseln. Shishijima preist den 1200 Jahre alten Kampferbaum, der eine magische Existenz im Zentrum der Insel führt, sowie eine Bienenzucht und die Ziegen, die vor allem für Familien mit Kindern interessant sind. Auch der umebaka-Friedhof mit seinen bunten Häuschen findet sich auf dem Plan, so etwas haben die inländischen Touristen schließlich auch noch nie gesehen.

Was wird aus Shishijima?

Die Zukunft hält für Shishijima und ähnliche Inseln zwei Optionen bereit: Entweder sie werden zu unbewohnten Inseln (mujintō 無人島), auf denen einzig Ruinen und Friedhöfe von früherer Besiedlung durch Menschen zeugen, oder sie werden von Aussteigern und Selbstversorgern angepeilt, die die Leere als Chance für einen Neubeginn begreifen. Auch Menschen, die ihren Ruhestand an einem ruhigen Ort verbringen möchten, sind die Zielgruppe von Wiederbevölkerungsaktivitäten der lokalen Verwaltungseinheiten. Tatsächlich scheint das Interesse an einem solchen Leben groß zu sein, nur scheitert es meist daran, dass die Leute nicht wissen, an wen sie sich diesbezüglich wenden können. Es gibt bereits Magazine und öffentlich finanzierte Stellen, die sich für die Rückbevölkerung solcher Ortschaften einsetzen (vgl. dazu die Phänomene U-Turn und I-Turn). Die Insel hinterlässt trotz des Anblicks überwucherter Ruinen und Friedhöfe, verlassener Geschäfte und verblasster Fotos aus vergangenen Zeiten keineswegs Endzeitstimmung. Die herumstehenden Bagger, wenn auch ruhend, neu errichtete Bänke, frisch gepflanzte Blumenbeete, das frisch gestrichene torii am Kampferbaum, die vom Festland abbestellten Bauarbeiter und nicht zuletzt die über globale sharing-Netzwerke Angereisten zeugen davon, dass hier über alte und neue Wege auch in Zukunft menschliches Wirken vorgesehen ist.