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Ein Beitrag von Steffi Richter

Glokal. „Das Japanische Haus“ in Leipzig

Der folgende Text wurde im März 2016 für das Heft 5 des Journals „5. Designing Media Ecology“ verfasst, das im Juni 2016 als Themenheft „Mobility and Place. Alternative Spaces in Asia“ (移動と場所―アジアのオルタナティブスペース) erschien, hrsg. von Mizukoshi Shin, Mōri Yoshitaka, Sakura Osamu, Iharada Haruka. Ins Japanische übersetzt wurde er von Ōtani Yū: グローカルーライプツィヒ「日本の家」, S. 10-11; Link zum Journal (dort ist unter dem Zwischentitel „‘5‘ in the university seminar“ übrigens auch ein kleiner Bericht mit Foto über ein Master-Seminar im SoSe 2016 zu finden).

Im Frühjahr 2011 tauchten plötzlich zwei junge Leute aus Japan in der Leipziger Japanologie auf. Sie wollten in einem der vielen leer stehenden Häuser Leipzigs, das damals noch als „schrumpfende Stadt“ galt, ihr Projekt namens „Das Japanische Haus“ starten, und dazu baten sie uns um Kooperation. Uns saß uns noch der Schock von „3.11“ in den Knochen und ich war höchst skeptisch: Wieder so eine „Kizuna“-Aktion, um ein heiles „wabi-sabi“-Japanbild zu retten, anstatt endlich genau hinzuschauen und zu fragen, warum es zu einer solchen Katastrophe kommen konnte? Nein. Was folgte, war etwas ganz anderes – es war „der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ (berühmt gewordene Worte, mit denen der amerikanische Kultfilm „Casablanca“ (1942) endet – und hier sind sie ganz und gar nicht ironisch gemeint).
Inzwischen haben die beiden Architekten, Ōtani Yū und Minkus Noriko, mit ihrem Projekt einen Ort geschaffen, den sie selbst als „Städtischen Zwischenraum“ (都市の「間」) bezeichnen: Raum in der Stadt, den ihre Bürger frei nutzen können (都市において市民が自由に使える空間). Ich scheue mich nicht, diesen Ort als eine kleine „realisierte Utopie“ zu bezeichnen. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, diese Behauptung mittels einer ausführlichen Darstellung der vielen verschiedenen Aktivitäten des „Japanischen Hauses“ zu belegen. Stattdessen möchte ich diese in drei charakteristischen Merkmalen zusammenfassen und das fast fünfjährige Bestehen dieses wunderbaren Netzwerkes auf diese Weise würdigen.

Erstens liegt dem „Japanischen Haus“ die Idee zugrunde, aus den lokalen Gegebenheiten der nach 1989 deindustrialisierten ostdeutschen Stadt Leipzig heraus einen alternativen Lebensraum direkt hier vor Ort, mit der nachbarschaftlichen Bevölkerung zu schaffen. In diesem Raum kommen vor allem prekäre, einkommensschwache Bewohner zusammen und essen, reden, spielen miteinander, und werden auch künstlerisch kreativ. Ōtani und Minkus haben diesen leer stehenden Raum in meist heruntergekommenem Häusern zunächst für wenig Geld vom Eigentümer (der häufig auch kein Geld hatte) zur Verfügung gestellt bekommen. Und dann begann jener Prozess, den David Harvey in seinem Buch „Rebellische Städte“ (2013) als „Erschaffung urbaner Allmende/Gemeingüter“, als „commoning“ bezeichnet: Sie haben sich mit anderen lokalen Gruppen – etwa Aktivisten des „Urban Gardening“ – vernetzt und voneinander gelernt (horizontales Agieren); sie verhandeln mit zuständigen städtischen Behörden und kämpfen um Gelder und Sponsoren, um ihre Projekte realisieren zu können (hierarchisches Agieren); vor allem aber mobilisieren sie immer wieder ihre eigene Phantasie und die ihrer Mitstreiter. „Japan“ und Artefakte der japanischen Kultur sind dabei von Beginn an zwar als Mittel auch von symbolischer Bedeutung, aber sie sind nicht das Ziel an sich – womit ich zum nächsten Merkmal komme.

Zweitens spielt der interkulturelle Austausch eine wichtige Rolle. Junge Künstler aus Japan kommen regelmäßig ins „Japanische Haus“, um hier zu wohnen, zu arbeiten und auszustellen („artists in residence“). Seit 2012 finden Workshops statt, in denen Aktivisten, Studenten, Wissenschaftler und Stadt- und Kommunalpolitiker aus Deutschland und Japan miteinander und mit der Nachbarschaft (ein ganz wichtiges Wort mit neuer Semantik) ganz konkrete Projekte diskutieren und auch experimentieren – Ōtani nennt das „breeding space“ (育成場), also ein Ort, an dem lokales Wissen im gemeinsamen Handeln entsteht. Hier begegnen sich nicht „Japan“ und „Deutschland“ als nationale Entitäten, sondern „bottom up“-Akteure, die als „universale Einzelne“ daran interessiert sind, direkt vor Ort ein gutes Leben jenseits von neoliberaler Markteffizienz und Profit zu realisieren. Ganz genau wird die unmittelbare Umgebung erkundet – und so verdanke ich persönlich, als geborene Leipzigerin, den Rundgängen durch einzelne Stadtviertel mit (Leipziger) Aktivisten für (japanische) Aktivisten einen ganz neuen Blick auf diese Stadt, von der ich geglaubt hatte, ich würde sie kennen.

Drittens ist auf die transkulturelle, globale Dimension des „Japanischen Hauses“ zu verweisen. Was in der Leipziger Eisenbahnstr. – dem Ort des Geschehens – passiert, das vollzieht sich in ähnlicher Weise auch in verschiedenen anderen städtischen Räumen in Europe: in Berlin, Amsterdam, Zürich oder Kopenhagen, aber auch in Ostasien: in Hongkong, Seoul, Taipei, Peking, Fukuoka und z.B. in Kôenji im Westen Tôkyôs. Dank der digitalen Medien kennen sich die Akteure dieser verschiedenen Projekte auch direkt oder indirekt. Zugleich diskutieren und lernen sie auch „analog“ und in direkter Kommunikation miteinander und voneinander – wie z.B. die zunächst auf Chinesisch erschienene Publikation „Creative Space: Art and Spatial Resistance in East Asia“ /創意空間﹣東亞的藝術與空間抗爭, ed. by Yuk Hui & DOXA, 2014) zeigt. Einige der Autoren stehen auch in direktem Kontakt zum „Japanischen Haus“ oder waren sogar schon hier zu Gast, wie Egami Ken’ichirō. Wie wird es mit dem Leipziger Projekt weitergehen? Die Prognose, die der Herausgeber des Bandes, Yuk Hui許煜 stellt, ist alles andere als optimistisch. Er konstatiert für Ostasien, dass der Urbanisierung- und Gentrifizierungsprozess rigoros und unumkehrbar ist: Alles, selbst Industrie- und andere Ruinen werden zu Mehrwert produzierenden Räumen umfunktioniert – ein Schicksal, das mehr und mehr auch der Leipziger Eisenbahnstr. droht. Und dennoch plädiert Hui für einen permanenten Widerstand gegen diese Entwicklung, indem versucht wird, bestimmte Räume wieder in Orte des Verweilen-Könnens zu verwandeln, wenigstens zeitweise. Als vor einiger Zeit der artivist Wong Ah-Kok你敢罷von der Hongkonger Independent Künstlergruppe „Hidden Agenda“ bei Matsumoto Hajime, dem Shirōto-no-ran-Protagonisten in Kōenji (mit dem das „Japanische Haus“ auch in Kontakt steht) zu Gast war, sagte er folgendes: „We are not activists who are fighting against the government, the state. We just want that they give us space, scope, where we can create our own life. Just let us be!“ Dieses „Just let us be!“ ist auch als ein Anspruch zu verstehen, schon jetzt leben zu wollen, als habe die große gesellschaftliche Veränderung schon stattgefunden – also in einer „realisierten Utopie“.

Eine kleine „realisierte Utopie“ versucht „Das Japanische Haus“ übrigens in den letzten Wochen auch einigen jener Flüchtlinge zu bieten, die seit dem Herbst 2015 nach Leipzig gekommen und zunächst in der „Einflugschneise“ Eisenbahnstr. untergekommen sind. Das aber kann der folgende kleine Film „Küche für Alle“ viel besser darstellen als noch mehr Worte. Ohtani hat ihn produziert und als Neujahrsgruß für 2016 Neujahrsgruß für 2016 veröffentlicht.

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