Die Universität Leipzig ist ein wichtiges Zentrum für innovative Forschung in den Bereichen der Globalisierung und der transregionalen Forschung. Das Institut für Sozial- und Kulturanthropologie trägt mit Forschungsprojekten und Lehre zu aktuellen politischen und zukunfstorientierten Themen dazu bei. Wir publizieren zu (De-)Globalisierung, Kapitalismus, Konflikt und Intervention, Erinnerung, Aktivismus, sozial-ökologischen Transformationen, Körper, Technologie, Raum und Migration.
Aktuell laufende Forschungsprojekte
Die Forschung am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie beschäftigt sich aktuell schwerpunktmäßig mit Politik und Governance im Rahmen von Digitalisierung, Fragen von Inklusion und sozialer Gerechtigkeit, Umwelterleben und Wellbeing. Ziel ist empirisch gesättigte Theoriearbeit sowie ein Verständnis für aktuelle politische Imaginationen und Utopien, die Zukunft gestalten.
Rassifizierung, Differenz und Ungleichheit in Wissenschaft und Politik
Wie hat der wissenschaftliche Rassismus Kategorien menschlicher Differenz geformt und wurde von ihnen geformt? Wie wurden Differenzkategorien wie „Rasse“, „Kaste“ oder „Ethnizität“ durch rassifizierende und (biologisch oder kulturell) essentialisierende Ansätze in der Wissenschaft mitkonstituiert? Und wie könnten sich die Wissenschaften, die sich mit der Erforschung der menschlichen Vielfalt befassen, insbesondere die Anthropologie, vom Erbe des wissenschaftlichen Rassismus befreien? Das Projekt geht diesen Fragen durch eine ethnografische Untersuchung der Geschichte von Rassismus in der Anthropologie und ihrer heutigen Hinterlassenschaften sowohl in Deutschland als auch in Indien nach.
Ein Schwerpunkt der historischen Untersuchung ist das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin, in dem nicht nur deutsche, sondern auch viele internationale Anthropolog:innen, darunter einige aus Indien, arbeiteten und in dem auch viele menschliche Überreste aus kolonisierten Gebieten für die Forschung verwendet wurden. Indem das Projekt diese transnationalen und transkolonialen Verbindungen in der Produktion von „rassischem“ Wissen untersucht, diskutiert es auch internationale wissenschaftliche Abhängigkeiten und Souveränität sowie postkoloniale Wissenschaft. Ziel des Projekts ist es, einen Beitrag zur Aufarbeitung der Hinterlassenschaften des Rassismus und zur Dekolonisierung der Anthropologie und anderer Wissenschaften, die sich mit menschlicher Vielfalt beschäftigen, zu leisten.
Ansprechperson: Thiago Pinto Barbosa
Being-in-Work - Arbeit, Prekarität und Leben mit Behinderung im Globalen Süden
In Kollaboration mit Forschenden im Bereich Disability Studies, Disability Anthropology und Organisationsstudien, fragt das Projekt nach Relationen zwischen Arbeit und Behinderung. Wir untersuchen die Kategorie Arbeit in Kontexten des Globalen Südens, in denen Einkommensmöglichkeiten rar sind, und aus der Perspektive von Menschen mit Behinderung. Aufgezeigt wird zum einen die Kommodifizierung von Behinderung in neuen Entwicklungsdiskursen und integrativen Sozialunternehmen, die um „Special Skills“ herum neue Geschäftsmodelle aufbauen. Zweitens beleuchten wir Taktiken, die Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen entwickeln, um sich in Arbeit als Lebensgefühl und Daseinsbestimmung zu verhaften. Der Wunsch „normal zu arbeiten“ und das Verankern in Arbeit weist auf eine problematische Lücke in diskurskritischen Debatten um Behinderung, Kapitalismus und Arbeit. Die Kategorie Arbeit läuft hier Gefahr, allein in ihren ausgrenzendem Potential untersucht zu werden. Unser Projekt zeigt mittels biographischer Interviews, teilnehmender Beobachtung und autoethnographischer Zugänge, wie sich Individuen mit Behinderung in verschiedenen lokalen Kontexten als tätige Menschen verstehen oder einzelne Facetten einer normativen Arbeitswelt aktiv und situativ besetzen. In Konversation mit der Ethnologie der Arbeit startet unser Projekt mit der Prämisse, Arbeit—über strukturelle Aspekte hinaus—als Erfahrung zu begreifen. Die Dehnbarkeit und Vielschichtigkeit von Arbeit als Tun erlaubt es, sich prozessual, situativ und imaginativ in Arbeit einzufinden und über diese Verankerung gesellschaftliche Zugehörigkeit einzufordern.
Kontakt: Stefanie Mauksch
Output:
- Mauksch, Stefanie & Giorgio Brocco (Forthcoming). Being in Work: Work as Experience, Circumstantial Disablement and the Desire to Work as Normal. Current Anthropology.
- Mauksch, Stefanie & Giorgio Brocco. Being in/at Work: Repositioning Knowledge about Work, Disability and Chronicity. Special Issue of Anthropology of Work Review. Scheduled for early 2025.
- Mauksch, Stefanie & Pascal Dey (2024). "Treating disability as an asset (not a limitation): A critical examination of disability inclusion through social entrepreneurship." Organization 31.4: 624-644.
- Mauksch, Stefanie (2023). Being blind, being exceptional: work integration, social entrepreneurship and the reimagination of blind potential in Nepal. Disability & Society 38.3: 401-420.
Environ-Mental Health: Erfahrung, Ethik und Poiesis ökologischer Trauer inmitten verwundeter Umwelt Indien (ENVIRON-MENTAL)
Environ-Mental Health: Erfahrung, Ethik und Poiesis ökologischer Trauer inmitten verwundeter Umwelt Indien (ENVIRON-MENTAL)
Dieses Projekt untersucht ökologische Trauer in Indien und darüber hinaus. Es geht von einem erweiterten Konzept von psychischen Erkrankungen über die individuelle Pathologien hinaus und verortet Leiden an der Schnittstelle zwischen ökologischem, individuellem und kollektivem Trauma. Das Projekt betrachtet das Anthropozän grundsätzlich als eine Zeit der Trauer; es untersucht Erfahrungen, Ethik und Politik von ökologischen Trauer in Kontext von beschädigten und klimaveränderten Umwelten und erforscht das generative Potenzial der Trauer. Ökologische Trauer wird als affektive Reaktion auf erlebte oder erwartete Umweltschäden und -verluste verstanden. Aus der ökologischen Trauer hervorgehende Reparativmaßnahmen werden als Teil der ökologischen Wiederherstellung verstanden. Sie kann als etwas angesehen werden, was „Care“ oder „Repair“ bedarf, aber auch selbst eine Form von „Repair“ darstellt. Ziel des Projekts ist es, (a) zu verstehen, wie ökologische Trauer im Kontext von Umweltschäden, Verlusten und Klimawandel in Indien und darüber hinaus erlebt, artikuliert und mobilisiert wird, (b) zu beschreiben, wie ökologische Trauer selbst generativ wird, und (c) das Konzept von „environ-mental health“ zu testen.
Laufzeit: 01.01.2026 - 31.12.2026
Finanzierung: DFG
Kontakt: Claudia Lang (claudia.lang@uni-leipzig.de)
Auf dem Weg zu einer Anthropologie des Zufalls
Auf dem Weg zu einer Anthropologie des Zufalls
Zufälle spielen eine bedeutende Rolle in der wissenschaftlichen Forschung und prägen deren Ergebnisse – auch wenn sie im Schreibprozess häufig zu Anekdoten oder illustrativen Randnotizen werden. In den etablierten Abläufen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion scheinen sie keinen festen Platz zu haben. Dabei wissen wir längst: Zufälle sind wichtig. Dieses Projekt geht der Frage nach, wie sie wichtig sind – und rückt die Beziehung zwischen Wissenschaft und Zufall ins Zentrum.
Ziel ist es, den Zufall nicht nur als begleitendes Phänomen, sondern als eigenständiges Forschungsobjekt zu begreifen. Im Mittelpunkt steht dabei die Leitfrage: Wie gehen Wissenschaftler:innen mit Zufällen um – und wie prägt diese Auseinandersetzung ihr Verständnis und ihre Erkenntnisse?
Das Projekt untersucht Momente des Erkenntnisgewinns, in denen der Zufall eine entscheidende Rolle spielt – sowohl im individuellen wissenschaftlichen Arbeiten als auch in interdisziplinären Zusammenhängen. Gerade an der Schnittstelle von Natur- und Sozialwissenschaften wird deutlich: Verstehen ist kein Selbstläufer, sondern muss immer wieder gemeinsam ausgehandelt werden. Aha-Momente, oft ausgelöst durch das Unerwartete, sind dabei zentral für erfolgreiche Forschung – insbesondere in kollektiven Prozessen.
Vor diesem Hintergrund analysiert das Projekt, wie Wissenschaftler:innen im Alltag – innerhalb wie außerhalb formeller Forschungszusammenhänge – mit Zufällen umgehen. Welche Rolle spielt das Unvorhergesehene für das Verständnis wissenschaftlicher Zusammenhänge? Und wie beeinflusst es den Verlauf und die Dynamik von Forschungsvorhaben?
Das Projekt leistet einen Beitrag zur sozial- und kulturanthropologischen Wissensproduktion, indem es den Zufall in den Mittelpunkt rückt. Es knüpft an bestehende Diskussionen über Wissen, Unsicherheit und Forschungspraxis an – und erweitert zugleich die ethnografische Methode, indem es sie experimentell in alle Phasen des Forschungsprozesses einbindet.
Kontakt: Susann Ludwig
Abgeschlossene Forschungsprojekte
Digitale Verwaltung und Neuverräumlichung des indischen Nationalstaates
Das Teilprojekt untersucht die Rolle von Raumentrepreneur_innen für die räumlichen Folgen des Aufbaus einer digitalen Verwaltungsstruktur in Indien. Im Vergleich der drei Perspektiven auf Planung, Umsetzung und Aneignung digitalisierter Verwaltung beschreibt das Teilprojekt systematisch den Wandel des Raumformats Nationalstaat und schafft damit ein theoretisches Verständnis der bisher wenig untersuchten Verräumlichungseffekte gegenwärtiger digitaler Infrastrukturprojekte.
- Mittelgeber:
DFG (Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs "Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen") - Laufzeit:
2020 – 2023 - Projektleitung:
Ursula Rao
Die Rekonfigurierung von mentaler Gesundheit im Kontext von Digitalisierung
Mental Health- und Psy-Diskurse migrieren zunehmend in das digitale Medium. Obwohl die Digitalisierung als Teil neoliberaler Psychopolitik für die (Selbst-)Sorge und die Bewältigung mentaler Schwierigkeiten immer wichtiger wird, existiert bislang nur wenig medizinanthropologische Forschung darüber. Das Projekt untersucht die Rekonfigurierung von Gesundheit und (Selbst-)Sorge unter digitalen Bedingungen. Im Zentrum der Untersuchung stehen neue digitale Technologien bei der Bewältigung mentaler Schwierigkeiten und die diskursive Konstruktionen von gesundheitsbezogenen Auswirkungen digitaler Lebenswelten auf (psychische) Gesundheit und Wohlergehen. Welche Effekte hat der Rückgriff auf neue Technologien auf die Art und Weise, wie Menschen ihren Alltag heute gestalten und mentalen Herausforderungen begegnen? Welche neuen Mensch-Technik-Beziehungen entstehen? Welche visionären ethischen und politischen Projekte bilden sich heraus und welche dystopischen Erzählungen prägen lokale Erfahrungswelten und führen zu politischem Handeln?
- Mittelgeber:
DFG - Laufzeit:
2019 – 2024 - Projektleitung:
Claudia Lang
Infrastrukturbau und die Gestaltung von Asien durch Anpassen, Vereinheitlichen und Kooperieren
Investition im Bereich des Infrastrukturbaus spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der aktuell sich ereignenden Transformationen in Asien. Diese Themenlinie der Shaping Asia Netzwerk-Initiative erforscht, wie neue Infrastrukturprojekte Gesellschaft gestalten. Es geht dabei um die rekursiven Prozesse, durch die sich Asien, Nationalkontexte in Asien und Lokalität aufeinander bezogen verändern. Unser Vorgehen ist komparativ und betrachtet sowohl Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen asiatischen Ländern, als auch deren gegenseitige Beeinflussung. Als Ausgangspunkt für den Vergleich dienen die drei Prozesse der Anpassung, Vereinheitlichung und Kooperation. Die drei Arbeitsthemen (Focus Areas) beschäftigen sich mit den Fragen (1) wie neue digitale Verwaltungssysteme an lokale Verhältnisse angepasst werden, (2) welche vereinheitlichenden Impulse von global zum Einsatz kommenden Technologien zum Schutze gefährdeter Küsten ausgehen und (3) welchen Charakter die internationale Zusammenarbeit hat, die dem Bau von Mobilitätsinfrastruktur in Grenzgebieten gestaltet. Die beteiligten Wissenschaftler*innen sind ausgewiesene Expert*innen in den drei Feldern. In diesem Projekt entwickeln sie innovative Methoden des Vergleichs von in unterschiedlichen asiatischen Ländern angesiedelten Fallstudien. Ziel ist ein Verständnis für die Auswirkungen des Infrastrukturbaus auf politische Kulturen und trans-regionale Verbindungen. Im Austausch mit anderen Mitgliedern der Shaping Asia Netzwerk-Initiative und weiteren internationalen Asienexperten, entwickelt dieses Projekt ein Verständnis für den Prozess, durch den die Zukunft Asiens gestaltet wird.
- Mittelgeber:
DFG (Teilprojekt des Netzwerks "Shaping Asia. Connectivities, Comparisons, Collaborations") - Laufzeit:
2020 – 2022 - Projektleitung:
Ursula Rao
Umgang mit der gewaltsamen Vergangenheit in Somalia: Forensisch-anthropologische Interventionen in Somaliland und ihre Auswirkungen über den lokalen Kontext hinaus
Diese Forschung konzentriert sich auf jüngste Initiativen zur Ausgrabung von Massengräbern in der international nicht anerkannten Republik Somaliland (Nordwest-Somalia). Es wird untersucht, wie die Menschen vor Ort forensische anthropologische Interventionen verstehen und darauf reagieren, wie diese Interventionen stattfinden und welche Interessen dabei eine Rolle spielen. Das Projekt versteht die forensisch-anthropologische Arbeit als Teil eines „globalen Systems der Rechenschaftspflicht“ (global accountability regime), welches die Aufarbeitung vergangener Gräueltaten befördert. Eine wichtige Forschungsfrage ist, wie sich das von forensischen Anthropologen vorgebrachte und von internationalen Menschenrechtsanwälten unterstützte Verständnis von Wahrheit und Rechenschaftspflicht auf ein lokales Verständnis von („angemessenem“ / „gutem“) Tod und Gerechtigkeit bezieht (oder diesem widerspricht). Außerdem befasst sich das Projekt auch mit den praktischen Fragen: Was kann aus den laufenden forensischen Interventionen in Somaliland für Somalia generell in Bezug auf den Umgang mit der gewaltsamen Vergangenheit gelernt werden? Welche Bedeutung hat die forensische Anthropologie allgemein für (Post-) Konfliktsituationen im globalen Süden und insbesondere für sunnitisch-muslimische Kontexte?
- Mittelgeber:
2019 – 2020: London School of Economics and Political Science (LSE) mittels Conflict Research Fellowship Programms
2015 – 2018: Daimler und Benz Stiftung (Projekt: 32-06/14) - Laufzeit:
2015 – 2020 - Projektleitung:
Markus Höhne